Dienstag, 2. Juni 2020

Die 10 Lieblingsalben - Teil 3 : Die Ärzte - "Rock'n Roll Realschule"

Redet man im Allgemeinen über Deutsche Pop- und Rockmusik, dann kommt man zwangsweise schwer an der Band „Die Ärzte“ vorbei. Im Jahr 2002, lange nach ihrer Wiedervereinigung, erfüllte sich das Berliner Trio einen Traum und folgte den Wegen von Künstlern Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier, die bis dahin als einzige Deutsche Vertreter ein MTV-Unplugged aufgenommen hatten. In gewohnt typischer Ärzte-Manier sollte dieses Ereignis natürlich besonders kreativ und unkonventionell ausfallen. So war es letztlich Schlagzeuger Bela, der die zündende Idee vorbrachte, ein Unplugged mit Begleitung von Schulchor und -orchester umzusetzen. Es folgte eine landesweite Ausschreibung an Schulen, die sich für das Unplugged bewerben konnten. Als Wahl der ersten Stunde fiel die Entscheidung damals auf das Albert-Schweizer Gymnasium in Hamburg, wo das Konzert am 31. August in der zugehörigen Aula prämierte und später unter dem ironischen Titel „Rock’n Roll Realschule“ veröffentlicht wurde. Ein Wagnis, das aus damaliger Sicht wie heute noch erstaunt und in seinem Ergebnis den Test der Zeit eindeutig bestanden hat.

Während die erste Hälfte der Setlist ganz im Zeichen der drei Berliner Punk-Ikonen steht und lediglich mit Unterstützung des Perkussionisten Markus Paßlick bestritten wurde, brilliert die zweite Hälfte dann vor allem dank den gelungenen Arrangements, die interessanterweise aus der Zusammenarbeit von Bassist Rod Gonzales und seinem alten Musiklehrer hervorgingen. Innerhalb der neunzehn Titel (CD) bedienen die Musiker dabei eine ausgiebige Palette an Instrumenten, die man in dieser beachtlichen Breite selten vorfindet. Das beginnt bei Mundorgel und Sitar, zieht vorbei an einer singenden Säge und Metallschrott, bis hin zu Xylophon, Didgeridoo und Banjo. Allein diese Kreativität verspricht im Voraus ein kunterbunter Spaß zu werden. Und ebenso vielfältig wie die Instrumentierung, gestaltet sich letztlich mit Freude das abwechslungsreiche Programm.   
Als fast schon zum Spätwerk zählenden Schaffen der Band schöpft das Album aus dem vollen Katalog und listet diverse Klassiker auf, so dass dem gemeinen Fan nur wenig Wünsche offen bleiben. Auftakt findet das Konzert mit den politisch tragfähigen Songs wie der Anti-Nazi Hymne „Schrei nach Liebe“, direkt gefolgt von der Vegetarier-Hymne „Ich ess Blumen“. Erstmalig Prämiere feiert außerdem ein Song namens „Monsterparty“, typisch durchsetzt von Wortspielen und Popkulturzitaten, ganz wie von der bästen Band der Welt erwartet.
Hits wie „Westerland“ und „Zu spät“ kommen danach ebenso wenig zu kurz wie Blödeleien im Stile von „Kopfhaut“ und „Meine explodierte Freundin“; stets begleitet von den Markzeichen, spontaner Textabwandlungen und humoristischen Seitensprüngen in Zwischenansagen, die dem Hörer auch Jahre später noch ein dickes Grinsen ins Gesicht zaubern.

Neben all dem freudvollen Juxen und pubertärem Quatsch sind es dann wiederum die anderen, gefühlvollen Momente, in denen doch ein Hauch Ernsthaftigkeit durchschimmert, und die im Laufe der Zeit zu den absoluten Highlights der Liveaufnahme avancieren. Das orchestrale „Mit dem Schwert nach Polen“, das fast schon aus dem Rahmen herausfallende Liebeslied „1/2 Lovesong“ und die vormals melancholische Stadionrocknummer „Der Graf“ sind solche Exemplare, die von der analogen Transportierung und dem atmosphärischen Gewand nochmals an ganz neuer Qualität gewinnen. Wo beispielsweise Metallica zu ihrer Zeit den brachialen Stadionrock vergleichsweise simpel mit Streichern und Bläsern plump aufgeplustert und lieblos untermalten, gehen die Ärzte um einiges charmanter und origineller vor; weshalb man dieses Album nicht nur als Fan der Band gehört haben sollte.

Loben, muss man wirklich diese Arrangements und Performance der Schüler auf ganzer Linie; mag auch punktuell nicht alles in Perfektion aufgehen und zum Paradebeispiel taugen. Hier und da vermischen sich mal Orchesterstimmen allzu sehr im verworrenen Klangbrei und die Backgroundsängerinnen haben grundsätzlich Mühe und Not ihren juvenilen Stimmen Gehör zu verleihen. Darüber kann man jedoch völlig hinwegsehen, denn schließlich spielt man lediglich zum Spaß an der Musik - und zwar in einer Schulaula und nicht in der Elbphilharmonie.

Hervorzuheben ist in der Retrospektive noch der zum Sterben schöne Schlusspunkt „Manchmal haben Frauen“ – aus heutiger Sicht definitiv einer der faszinierendsten Deutschen Unplugged-Songs. Wenn ein Mädchenschulchor zu romantischen Streichern die Zeile „Manchmal haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern“ singt und dann im Anschluss korrigierend hinzusetzt „Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie du was auf die Fresse verdient“, wirkt das nicht zuletzt in Anbetracht von Diskussionen um die angebliche Instrumentalisierung von Kinderchören („Meine Oma ist ne alte Umweltsau“) und toxischer Männlichkeit auf eine bizarre Art und Weise überaus versöhnlich und ehrlich; womit im Übrigen auch beschworene Generationenkonflikte, den so mancher heute im politischen Diskurs gerne sucht, mal eben negiert wird. Denn das größte Kompliment, das man der Band und Schülern für dieses Gesamtkunstwerk machen darf, ist, dass es wohl keinen besseren Beweis für den Dialog zwischen verschiedenen Altersgruppen gibt, als eine gemeinsame Sprache zu suchen. Und in diesem Falle heißt diese Sprache „Musik“, der Dialog „Unplugged“ und der Beweis „Die Ärzte“.

Anspieltipps :

„Manchmal haben Frauen“  Link
„Mit dem Schwert nach Polen“ Link
„Ignorama“ Link

Auch sehenswert, das Making-Of :  Link

Sonntag, 26. April 2020

Die 10 Lieblingsalben – Teil 2 : Porcupine Tree : „Fear of a blank planet“


Noch bevor Corona und Klimawandel zu gesellschaftlichen Inbegriffen der neuen politischen Jugend werden sollten, gab und gibt es eine verdeckte Problematik, die dieselben Jugendlichen betrifft, ohne dass sie möglicherweise ein Gespür dafür entwickeln konnten. Die Rede ist hier vom Verschwinden der Kindheit. Ganz im Sinne des Soziologen Neil Postman, der 1982 im gleichnamigen Buch, darauf hinweisen wollte, dass Kindheit primär als ein soziales Konstrukt zu verstehen sei, welches sich seit der Erfindung des Buchdrucks durch eine omnipräsente und tief verwurzelte Literalität konstituierte.
Die Fähigkeit des Lesens trennt die Inhalte und Geheimnisse der Erwachsenenwelt von den Augen und Gedanken der Kinder. Erst im langsamen Reifeprozess, durch den mühsamen und reifenden Erwerb der Lesefähigkeit und der Abstraktion, überwindet ein Kind die Schwelle zum Erwachsensein. 

Wie kann aber im 21. Jahrhundert ein Kind noch Kind sein, wenn durch Bildmedien wie Fernsehen und Internet die Schwelle plötzlich verschwindet und Informationen ungefiltert die Augen jedes Menschen gleichermaßen erreichen ? Wenn zwischen Kindern und Erwachsenen kein Unterschied besteht, da keine Fähigkeit zur Informationsaneignung mehr von Nöten ist ? Wenn ihrer beider Wahrnehmungswelten miteinander verschmelzen; sie ein und dieselben sind ? Dann verschwindet das, was wir im sozialen, nicht biologischen Sinne, als Kindheit bezeichnen.        

Ob Steven Wilson, der gemeinhin als derzeitiger Frontkämpfer der Progressive-Rock Bewegung angesehen werden kann, zur damaligen Zeit Postman gelesen hat, lässt sich nur mutmaßen. Das Album „Fear of a blank planet“, welches der heutige Solokünstler mit seiner einstigen Band Porcupine Tree im Jahr 2007 veröffentlichte, scheint der Thematik jedoch arg verbunden. Die Angst vor einer menschenleeren Welt, bezeichnet nicht etwa – wie gegenwärtig annehmbar – die Extinktion durch einen Virus oder einen globalen Krieg, sondern verhandelt die Epidemie des Kindheitssterbens durch den Technikwandel und, unter anderem damit korrespondierenden, sozialen Missverhältnissen.

Befürworter der uneingeschränkten Digitalisierung und Akteure der Tech-Unternehmen, die von der Freiheit und den unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Medien predigen, vergessen in ihrer Argumentation oft, dass die neuen Nutzungsmöglichkeiten und Kommunikationswege, die Art und Weise wie Menschen denken und die Welt wahrnehmen erheblich verändern. Die Prämisse, alle - also die Gesellschaft als Ganzes - würden in gleichem Maße von den Prozessen der Digitalisierung profitieren, ist a priori falsch. Hinzu kommt nämlich, dass mediale Kompetenz keineswegs angeboren ist und der Umgang und die Bewertung mit den darin präsentierten Inhalten eine Herausforderung darstellt, die Beherrschung, Rationalität und Literalität voraussetzt. Dinge, die ein Kind erst lernen müsste, bevor es sich diesen Medien und Inhalten wirklich kritisch und aufgeklärt gegenüber positionieren kann.

Wo aber die Milieus ohnehin soziale Defizite aufweisen und von Bildungsferne, oder auch ökonomischer Armut, geprägt sind, läuft die Gefahr auf, dass Kinder sich der neuen Medien uneingeschränkt bedienen dürfen, um „ruhig gestellt“ oder einfach „beschäftigt“ zu werden. Dies oftmals aus dem Grund, dass Eltern selbst mangelnde digitale und soziale Kompetenz aufweisen, woran Einfühlungsvermögen, Aufopferung, Sorge und Verständnisbemühungen gegenüber Kindern und ihren Problemen als vernachlässigte Güter sichtbar werden. Dem Kind offenbart sich mit dem Internet und digitalen Medien als Beziehungsersatz, daraufhin eine Welt, deren Informationen es unvorbereitet und unreflektiert antrifft.

Die Geheimnisse der Welt, die Gewalt in der Kultur wie im Realen, die Frage nach dem Leben und dem Tod, nach der Liebe und der Sexualität, nach der Identität und dem Sinn des Daseins, all das prasselt unvermittelt auf die unschuldige Seele ein und führt zum Tod dessen, was wir als Kindheit verstehen.
[…]
„Sullen and bored the kids stay, and this way they wish away each day.“ (Auszug aus Sentimental)
[…]
Was folgt sind mitunter verschiedenste psychische Störungen und defizitäre Ausprägungen einer seelischen Vergewaltigung, so dass je nach Extreme die medikamentöse Behandlung als Schlusslicht aufwartet. Wie kann eine Welt als sinnvoll erlebt werden, wenn sie nicht an eine Zukunft glaubt ? Wenn es keine Identifikation, kein Ich gibt ? Im Titelstück heißt es da :

„X-box is a god to me
A finger on the switch
My mother is a bitch
My father gave up ever trying to talk to me“
[…]
I’m through with pornography
The acting is lame
The action is tame
Explicitly dull
Arousal annulled
[…]
In school I don’t concentrate
And sex is kinda fun
But just another one
Of all the empty ways
Of using up a day
[…]
How can be sure I’m here ?
The pills that I’ve been taking confuse me
I need to know that someone sees that
There’s nothing left I simply am not here

Bipolar disorder
Can’t deal with the boredom   

Die Botschaft wird - wie es immer seltener noch der Fall ist - ebenso durch das Cover und die Gestaltung des Booklets transportiert. Aus nächster Distanz schauen wir in die Augen eines Kindes, welches von warmen, blauem Licht angestrahlt wird. Dabei handelt es sich natürlich um die Reflektion eines Computer-Bildschirms, dessen Kontur bei genauerer Betrachtung am unteren Rand zu erkennen ist. Und die Dunkelheit im Hintergrund verweist uns unmerklich auf die Gegenwärtigkeit von Isolation und Abschottung. Am Ende scheint der einzige Ausweg aus dem Gefängnis einer sinnleeren, unkontrollierbaren und zukunftslosen Welt der Suizid.
[…]
Let’s sleep together right now
Relieve the pressure somehow
Switch off the future right now

Let’s leave forever
(Auszug aus Sleep together)
    
Wilson und seine Mitstreiter tun ihr bestes dabei, über das gesamte Album den Leidensweg eines Seelenlebens musikalisch nachzuzeichnen - ohne dabei jedoch in Klischees abzudriften. „Fear of blank planet“ verläuft dabei unter einer kontinuierlichen Entwicklung, beginnend mit dem Zorn und allweltlichen Unzufriedenheit, über nihilistische Gefühle des Betäubt-Seins, hin zu der unausweichlichen Depression. Nur ab und zu fallen etwas hoffnungsvoll anmutende Töne und Sehnsüchte durch das engmaschige Netz aus allanwesender Melancholie. So etwa in „My ashes“ und „Sentimental“, wo helle Klavierakkorde einen schimmernden Gegensatz zu der sonst trüben Niedergeschlagenheit aufbauen.

Diese kunstvolle und überdachte Konzeption ist schon für sich genommen eine beachtliche Rarität, gewinnt aber vor allem durch die großartigen und abwechslungsreichen Arrangements in jedem Stück weiter an nennenswerter Qualität. Ein Grund warum das Album unbedingt unter dem Terminus „Gesamtkunstwerk“ zu verstehen ist. Denn Füllmaterial sucht man auf „Fear …“ ebenso vergeblich wie übergroße Fußstapfen, die auf den Pfaden von Genesis, Pink Floyd oder Yes wandern. Dafür stehen Porcupine Tree hier dem Metal-Genre zu nahe. Insbesondere Gavin Harrison, der später bei King Crimson und The Pineapple Thief hinterm Schlagzeug anbandelte, holt hier das Maximum aus seinem Kit heraus, ohne gleichzeitig Geschwindigkeitsrekorde aufstellen zu wollen. Das siebzehn Minuten lange Epos (hier ist die Auszeichnung gerechtfertigt) „Anesthetize“ ist dabei nicht nur Musterbeispiel für die Komplexität auf dem Album, sondern verdeutlicht eindrucksvoll die Vielseitigkeit eines Ausnahmedrummers, wie sie vielleicht nur ein Steven Wilson zur vollen Geltung bringen konnte. Letzterer musste seine Bedeutung für Progressive Musik mit gesellschaftskritischem Anspruch nicht erst seit „The Raven that refused to sing“  verifizieren. Mit Porcupine Tree und „Fear of a blank planet“ war diese Umstand längst bewiesen.
          
Das komplette Album könnt ihr hier hören :


Donnerstag, 2. April 2020

Kommentar aus der Quarantäne - Ein Rezept gegen Verschwörungstheorien

Mich faszinieren an unserer gegenwärtigen Situation vor allem die Phänomene, die sich dieser Tage landesweit entwickeln. Neben den offenen - und stellenweise in Vergessenheit geratenen – Solidaritätsbekundungen, sowie dem Gemeinwohl zu Gute kommenden Aktionismus, bringt die Krise allerdings auch Versäumnisse und Schwächen unserer Gesellschaft ans Tageslicht. Am Meisten entsetzt mich dabei die fehlende Kompetenz bezüglich des Umgangs mit Medien und deren Informationsgehalt. Nie zuvor besaß das Digitale einen triftigeren Gebrauchscharakter als zur jetzigen Zeit. Es ist daher nur folgerichtig, dass viele Menschen, die den Zugang zum Internet bisher nur spärlich beanspruchten, nun die Vorzüge für sich entdecken, etwa die Telekommunikation mit Verwandten, Lernportale zur Weiterbildung oder Unterhaltungsangebote in Form von Streaming-Anbietern. Gleichzeitig droht diesen Menschen eine Fülle an Gefahren im Netz anzutreffen. Damit seien hier nicht Phishing-Mails und Hacker-Angriffe gemeint, sondern konkret, Theorien, die von Desinformation, Negation und Sensation leben, sogenannte Verschwörungstheorien.

Mir ist es ein großes Anliegen darüber zu schreiben, denn bisher war ich stets der Überzeugung, Deutschland sei auch Akademikerland und die meisten Menschen besäßen doch Vernunft genug, absurde Theorien und von Fakten gestützte Plausibilität sorgfältig voneinander zu trennen. Doch in vergangener Zeit musste ich bestürzt feststellen, wie nicht nur im entfernten, sondern auch im näheren Verwandtenkreis, immer häufiger Videos und Meinungen kursierten, die davon handelten, wir seien alle Teil einer großen Verschwörung. Darunter Behauptungen, das Virus sei speziell als biologische Kampfwaffe herangezüchtet worden, oder die geregelten Maßnahmen der Freiheitseinschränkungen geschähen nur unter dem Vorwand einer totalitären Machtübernahme, oder die Wirtschaft müsse mal wieder neu gestartet werden, oder die gesamte Lage wäre ein geplantes soziales Experiment, um unser Verhalten in Krisenzeiten auszutesten. Wobei ich letzterem sogar in gewisser Weise zustimmen würde, mit dem geringen Unterschied, dass dem keine wissentliche Planung innewohnt. Und noch während ich diese Zeilen verfasse, findet parallel eine Diskussion über den Einsatz einer App statt, die das Nachverfolgen von Infektionsketten vereinfachen soll, was den einzigen Schluss zulässt, dass wir auf einen Überwachungsstaat zusteuern und der Bevölkerung bald eine totale Ausspionierung bevorsteht. Als Studierter, der sich nahezu täglich mit Medien, Logik, Statistik und dem kritischen Begutachten von Quellen auseinandersetzt, neigt man dazu über diese Unhaltbarkeiten zu lachen. Das Lachen verstummt schnell, schaut man auf die Klickzahlen unter den Videos, die die Millionengrenze sprengen. Auch die Kommentarsektion macht dabei wenig Hoffnung. Dort fallen Sätze, die sinngemäß lauten : ,,Ich wusste es, wir werden alle vera*****.“ , oder ,,Dieses Land ist dem Untergang geweiht.“ Hört man ähnliche Formulierungen dann im familiären Umfeld, weiß der Aufklärer, dass Arbeit auf ihn wartet. Denn meine Erfahrung sagt mir, Kopfschütteln alleine hilft nicht dagegen.

Ich möchte auf keinen Fall falsch verstanden werden. An vorderster Stelle ist es wichtig zu betonen, dass per se die Kritik an den Grundgesetz reglementierenden Maßnahmen, also dem Umgang der Politik mit dem Virus, sowie Kritik am System, erstens legitim und zweitens unabdingbar wichtig sind. Die Sorge, die ich hier äußern möchte, bezieht sich eher auf eine Weise der Leichtgläubigkeit, der gefährlichen Verharmlosung und Indoktrinierung, die potenziell von diesen Theorien ausgeht. Einige Anhänger der Theorien sind mit Sicherheit lediglich schlau-böse Schelme, die sich einen Spaß am Absurden abgewinnen können und wissen, dass dahinter nicht viel Wahrheit steckt. Doch eine weitere Anhängerschaft nimmt diese populistischen Äußerungen bierernst. Und ein weiterer Teil ist unentschlossen. Die Gründe, weshalb solche Gedanken Hochkonjunktur besitzen und sie von vielen womöglich als ausreichenden Erklärungsansatz dienen, möchte ich versuchen aus meiner Sicht kurz und prägnant zu erläutern.

Die Krise, die uns nahezu unvorbereitet getroffen hat, empfinden wir Menschen als etwas Surreales und nicht, oder nur schwer Greifbares. Schon der Französische Philosoph und Schriftsteller Albert Camus beschreibt dies in seinem – äußerst lesenswerten und brandaktuellen – Roman die Pest aus dem Jahr 1947. Camus schreibt :  Plagen sind ja etwas Häufiges, aber es ist schwer, an Plagen zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Es hat auf der Welt genauso viele Pestepidemien gegeben wie Kriege. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet. […]
Sie glaubten nicht an die Plagen. Eine Plage ist nicht auf den Menschen zugeschnitten, daher sagt man sich, dass sie unwirklich ist, ein böser Traum, der vorübergehen wird.

Während es gleichermaßen schwer fällt diese neue Realität zu akzeptieren, sucht der Mensch nach Gründen, die die Zerstörung seiner Gewohnheiten und die plötzliche Distanz zu den Mitmenschen rechtfertigen können. Denn um noch einen anderen Philosophen zu zitieren : Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen (Epiktet). Unser Verstand gerät noch tiefer in Angst, gelingt es ihm etwa nicht diese plötzlichen, tiefgreifenden Veränderungen in einen sinnvollen Kontext einzuordnen und die Ursachen dessen zu ergründen und zu verstehen. Das einzige Gefühl, was für uns also noch schlimmer ist, als ein falsches oder verzerrtes Weltbild bei sich vorzufinden, ist mitunter feststellen zu müssen, in diesem Moment einen unzureichenden Wissensvorrat zu besitzen; erst recht in dem vorherrschenden Chaos. Solche Gefühle, gewissermaßen die Angst vor dem Unbekannten, sind zunächst vollkommen natürlich und hören wir daher auch öfters im Alltag oder in der Fernsehberichterstattung. Man achte hierbei besonders auf Sätze wie „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“, ,,Das ganze ist für mich unbegreiflich.“ , oder schlicht ,,Das ist doch Wahnsinn.“

Das Suchen nach Halt und einem Ausweg aus der Krise, die dahingehend eigentlich eine persönliche Gewissenskrise bildet und sich von Ungewissheit speist, führt zu dem bewussten oder unbewussten Schritt der Informationsbeschaffung. Wir wollen nach dem - möglicherweise immer noch anhaltenden - Schock herausfinden, was es mit all dem auf sich hat. An dieser Stelle wird das Problem der fehlenden Kompetenzen offenkundig. Schnell müssen manche Leute feststellen, dass sie selbst weder ausreichend Ahnung von Medizin, noch von Medien, noch von Politik oder Mathematik haben und bei ihnen womöglich auch eine gewisse Phantasielosigkeit ausgeprägt ist, um den unsichtbaren Feind zu sehen. Dabei möchte ich niemandem einen Vorwurf der Bildungsferne entgegenwerfen, oder die Menschen schlichtweg als dumm diffamieren. Das Thema gestaltet sich schließlich so komplex, dass selbst erfahrene Virologen, Mediziner und Politiker einen Lernprozess im Umgang mit dem Virus durchlaufen. Auch sie sind nicht mit Allwissenheit gewappnet. Und genau hier greift die Problematik der Verschwörungstheorien. Denn im Gegensatz zu den Experten und Wissenschaftlern, die sich zuweilen ausführlich mit dem Virus und seinen Konsequenzen beschäftigen, und die sich der vorhandenen Komplexität durchaus bewusst sind, stellt dies für Fachfremde ein eklatantes Kompetenzgefälle dar, welches sie nur mit äußersten Anstrengungen und zeitlichen Investitionen überwinden können. Obwohl wir rund um die Uhr mit Nachrichten versorgt werden und uns ständig neue, teils abstrakte Erkenntnisse präsentiert werden, bleibt es schwierig, die auf uns einprasselnde Informationsflut abzufiltern und Verwertbares daraus zu ziehen. Außerdem finden wir in der täglichen Berichterstattung, mit Ausnahme von manchen Wissenschaftsressorts in Zeitungen, eher Artikel und Berichte, die wissenschaftsfern und redaktionell verkürzt sind. Wer könne also von sich behaupten, die Rohdatenlage und das Forschungsspektrum allein daher zu durchdringen ? Der gemeine Fernsehzuschauer und Zeitungsleser sicherlich nicht.

Verschwörungstheorien dagegen bieten eine geringere Hürde, die zunächst nicht fordern, sich inhaltlich näher mit der Thematik auseinanderzusetzen. Die Erklärungsansätze für unsere gegenwärtige Situation sind dabei entsprechend simpel und täuschen oftmals Wissenschaft vor. Warum sollte man Studien über Infektions- und Mortalitätsraten lesen, die ohnehin keine befriedigenden Antworten geben ? Viel bequemer und sparender ist doch anzunehmen, dass das Virus eine zweckmäßig gezüchtete Waffe aus einem Labor sei. Das ist Film-Logik, einfache Antworten auf einfache Fragen. Dahingehend vermitteln diese Theorien den Rezipienten etwas Konkretes, etwas Sinnbildliches und Vorstellbares, worin der orientierungslose Bürger schlussendlich seine Sicherheit finden kann, denn seine Suche nach Gewissheit ist damit vorbei. Im schlimmsten Fall überströmt einen zudem das Gefühl, des aufgeklärt seins, indem man zusätzlich glaubt, man habe die Sache jetzt durchschaut und die Wahrheit entdeckt, worüber zuvor niemand berichten wollte. Dies ist ein Trugschluss. Und ganz entscheidend ist dabei die Inszenierung der Videos und der Persönlichkeiten, die durchaus eine gewisse Hochwertigkeit und Professionalität suggerieren, um den Glaubenscharakter und die Authentizität der Aussagen zu bestärken. Die infamen Sender der Verschwörungstheorien als solche zu erkennen, ist daher alles andere als leicht, auch da es graduelle Abstufungen gibt und Grenzen zu journalistisch korrekt arbeitenden Kritikern mitunter fließend sind.
Man kann die Theorien jedoch entlarven, versteht man die wissenschaftliche Vorgehensweise. Eine Theorie muss nämlich an der Realität scheitern können. Es ist daher in vielen Fällen ganz leicht, Stellen zu finden, an denen die Theorie unplausibel wird oder Erfahrungen und Alltagsbeispiele den Aussagen widersprechen. Daraus kann man sogar ein Denkspiel für die Quarantäne machen. Jeder Spieler pickt sich eine Theorie heraus und muss nun argumentieren, wo die Fehler liegen und warum die Theorie nicht stimmt.  

Abschließend möchte ich einige Tipps vorschlagen, sollte man generell einer kritischen Informationsquelle begegnen.

Zunächst sollte Klarheit über die produzierten Informationen geschaffen werden. Wer ist der Auftraggeber ? Handelt es sich beispielsweise um das Video eines privat finanzierten Senders, welches ein Freund per Handy geteilt hat, ein Interview öffentlich rechtlicher Medienanstalten oder ein wissenschaftlich verfasstes Paper eines Fachmannes ? Jedes Beispiel folgt gewissen Produktionskriterien, Richtlinien und Intentionen, was sich auf der Ebene der inhaltlichen Qualität widerspiegelt. Welche Quellen werden angegeben und für welche Aussagen werden keine Quellenverweise und Belege geliefert ? Ohne Beweismaterial lässt sich so gut wie alles behaupten. Ein Aspekt, den man im Übrigen berücksichtigen sollte, kommt man auf die Idee, seine eigene Theorie zu entwickeln. Weiter, von welcher Art sind die gegebenen Quellen ? Hierbei kann wieder auf den ersten Punkt verwiesen werden. Sind die Schlussfolgerungen zulässig oder gibt es Scheinzusammenhänge, für die andere Gründe in Betracht gezogen werden müssen ? Wohlgemerkt, in der Natur existieren so gut wie nie direkte, einfache Zusammenhänge, die nach dem A folgt B Prinzip verlaufen! Welcher Sprache wird sich in der Übermittlung der Informationen bedient ? Klingt der Titel reißerisch ? Geht es um eine starke Emotionalisierung und Dramatisierung ? Werden Wörter benutzt, die tendenziell affektbetont, anstatt sachlich sind ? Gefühle sollten bei einer Bewertung stets dem Verstand weichen, vielleicht steckt eine Ideologie dahinter. Während wir im Alltag unseren Mitmenschen mit Vertrauen begegnen, sollte man bei Texten und Videos immer eine gewisse Skepsis anlegen, vergleichbar wie bei Werbung, die im Hintergrund eine Strategie verfolgt. Gibt es darüber hinaus Zweitstimmen und Gegenmeinungen, die auf die inhaltlichen Aussagen bereits reagiert haben ? Usw.  

Dies sind einige, aber nicht alle Punkte, bezüglich einem kritischen Umgang mit Medienquellen und ich empfehle, diese zumindest ansatzweise durchzugehen, bevor die eigenen Überzeugungen auf dem Sockel einer Informationsquelle errichtet werden. Die Gefahr der nächsten Verschwörung aufzusitzen, sinkt damit signifikant. Und unter Umständen erledigt sich dann die Frage, ob man die Quelle wirklich seinen Verwandten schicken muss, ganz von selbst.                     

Sonntag, 22. März 2020

COVID 19 - Chance statt Krise


Im Chinesischen (*Mandarin) bedeutet das selbe Wort für „Krise“ gleichzeitig „Chance“. Bezeichnend dafür, dass das COVID-19 Virus ausgerechnet in der Chinesischen Provinz Hubei seinen Ursprung fand und in den Augen der Meisten hierzulande wohl als weltveränderndes Problem wahrgenommen wird. Ja, die Welt nach Corona wird eine andere sein, denn der Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung ist vielleicht das, was uns dieser Tage am meisten Sorgen bereitet. Nicht die Mortalitätsrate oder die exponentiell steigende Ansteckungskurve, die wir bei aller Anstrengung möglichst weit zu strecken suchen, sorgen für Panik, sondern der weitgehende Stillstand oder gar das drohende Erliegen unserer Versorgung und der Arbeit. Denn wir wissen, mit dem Virus wird die medizinische Forschung früher oder später fertig werden. Ein Impfstoff ist nur eine Frage der Zeit, nicht des Geldes oder anderer Mittel. Die Menschheit wird bestehen bleiben. Wir haben doch schon Schlimmeres durchgestanden und überlebt. Manch einer neigt gar dazu das Virus derlei zu bagatellisieren, dass er bedenkenlos andere einer Infektionsgefahr ausliefert.  

Ich wage daher zu behaupten, dass die größte Angst dieser Tage allein von der ungewissen Aufhebung des gegenwärtigen Ausnahmezustandes gespeist wird. Niemand weiß wie lange wir unser derzeitiges Leben unter diesen Umständen weiterleben müssen. Wir scheren uns nicht um den Zwang und die Verbote, die Einschränkung der Freiheitsrechte, denn die grundlegende Versorgung steht stabil und der Großteil von uns weiß, diese Maßnahmen dienen dem einzigen Zweck unser aller Überleben zu sichern. All diese Veränderungen wirken fremd, sind aber logisch rational und wirken daher keineswegs wie etwas, das unser Gehirn nicht verarbeiten könnte.

Das Filmgefühl, das Surreale, das nun greifbar scheint, spüren wir allerdings am eigenen Leibe, da sich uns eine neue Form der Realität entgegenstellt. Eine Realität, die mit unseren bisherigen Gewohnheiten bricht und die uns jederzeit konfrontiert, gehen wir Einkaufen oder verfolgen wir die neuesten Medienberichte, dann wird eine Stimme in uns laut, der wir stets beschwichtigen müssen, gerade nicht einem Traum beizuwohnen. Dass wir all das gerade erleben, dass wir plötzlich Verhältnisse verändernde Weltgeschichte am eigenen Leib widerfahren und mit Glück in ein paar Monaten darauf zurückblicken können, wenn wir hoffentlich wieder aus dem Corona-Schlaf erwachen dürfen, all das liegt schwer im Magen und wir können nur vermuten wie die Welt nach der Pandemie aussehen wird.

Bis dahin bleiben uns, neben der Pflicht zu solidarischem Gesundheitsverhalten, einige Umstände, die ich als Chancen verstehen möchte, die sich durch diese außergewöhnliche Situation bieten. Denn wie von vielerlei zurechnungsfähigen Kanälen zuvor angemerkt wurde, ist Panik und Verzweiflung erst recht fehl am Platz. Sicher, neben den zahlreichen Verlusten und Rückschlägen, die wir verzeichnen und noch in Zukunft verbuchen müssen, ist es zu bedauern, dass unser soziales Leben und unsere Kultur heuer derartigen Schranken unterworfen bleibt.
Überhaupt erfüllt die physische Öffentlichkeit eine postapokalyptischen Ruhe, als hätte man einen Großteil aller Noten aus einem Musikstück entfernt und mit Leerpausen ersetzt. Trauerstimmung oder auch Bedrückung, welche durchaus nachvollziehbar scheinen, ändern die Lage jedoch nicht, weshalb wir uns lieber fragen sollten, wie wir mit dieser Situation umgehen und wieso wir die Dinge missen, die wir nun schmerzhaft vermissen?

Die Zeit, unser zwischenmenschliches Leben, die Gesellschaft und die Kultur zu hinterfragen, ist jetzt da und es steht uns gewissermaßen frei, von dieser Zeit zu schöpfen und uns Dingen zu widmen, für die wir uns bisher zu Schade waren, größere Anstrengungen und Mühen aufzubringen. All die Fragen an unsere eigene Zukunft, die Hektik und der Stress, welche noch vor ein paar Wochen dominierten und auf unseren Schultern lasteten, wurden nun dankbar weggenommen, ob gewollt oder nicht. Wir sollten deswegen nicht ständig danach trachten, wann wir zum gewohnten Leben zurückkehren dürfen, es liegt ohnehin nicht – zumindest nicht direkt - in unserer Hand; vielmehr sollten wir uns fragen, welche Chancen sich jetzt auftun ? Mir sind dabei einige Denkanstöße aufgrund von Beobachtungen eingefallen, die ich gerne zum Anregen teile.

Beispielsweise erkennen wir durch die angepassten Umstände nicht, welchen Stellenwert gewisse Arbeiten im Eigentlichen für uns besitzen ? Arbeiten, die die Pfleger, Kassierer und Transportdienstleister dieses Landes ausüben und nun die grundlegendsten und gleichzeitig wichtigsten Bedürfnisse gewährleisten. Arbeiten, die zuvor offenbar wenig wertgeschätzt und entlohnt wurden und nun in der Krisenzeit scheinbar mehr bedeuten als zuvor. Können wir uns nicht wahnsinnig glücklich schätzen, ein solch materiell gut ausgestattetes Gesundheitssystem mit hart arbeitendem, medizinischen Personal vorzufinden ? Und warum haben wir die Pflege lange Jahre so derart vernachlässigt ? Jetzt rächt es sich schlagartig und wir sind hoffentlich schlauer. Einige Personen haben diese Tatsache schon erkannt und applaudierten daher ungeniert vor Fenstern oder bekannten diese Honorierung in den sozialen Medien.

Selbst das Klima profitiert auf indirektem Wege von der Epidemie, denn dass sich die Menschen in ihre Behausungen zurückziehen müssen, ermöglicht der Natur Raum zurückzugewinnen und eine Regeneration von der industriellen Belastung, hört man etwa Geschichten aus Italien, wo Flüsse plötzlich wieder sauber werden, oder von Berichten aus China über den spürbaren Rückgang der städtischen Luftverschmutzung.

Wir verstehen nun mitunter auch, welch enorme Wichtigkeit die digitale Vernetzung und das Internet als sozialer Raum für unser Leben einnimmt. Ganze Unternehmen machen sich daher gezwungenermaßen über die Digitalisierung Gedanken, denn das Home-Office und der Onlinezugang rücken nun stärker in den Fokus. Darüber hinaus stehen die vielen Möglichkeiten des E-Learning durch Foren, entsprechende Webseiten und Video-Portale zur Verfügung, welche uns helfen völlig autodidaktisch neue Lerninhalte anzueignen oder interessenorientiert einem (möglicherweise neuen) Hobby nachzugehen – Stichworte Weiterbildung und lebenslanges Lernen.
Diesbezüglich sehen wir auch den ausgedehnten Wohlstand innerhalb der elektronischen Unterhaltungsindustrie. Alleine die Beschäftigungsmöglichkeiten, die sich uns heute durch das Netz und die neuen Medien bieten sind gewaltig; so sehr, dass uns gar nicht langweilig werden kann. Die Quarantäne schafft die Gelegenheit all die Filme, Serien, Alben, Bücher und Spiele nachzuholen und zu genießen, die wir oftmals notorisch im Alltagsfluss untergehen lassen. Wenngleich ich nicht behaupte möchte, man soll die Zeit der eigenen Isolation allein mit Bespaßung und Unterhaltung vorantreiben. Vielmehr öffnen sich uns jetzt die Ruhezonen, die eine ganzheitliche Befassung mit diesen Dingen ermöglichen.

Dazu zählt auch eine Befassung mit uns selbst. Und ich wage eine weitere These aufzustellen, dass die wenigsten, mit Ausnahme von besinnlichen Weihnachtsabenden, bewusst die einsamen Momente ergreifen und den Mut fassen, in sich zu gehen und existenzielle Gedanken über das Leben auszuformulieren. Vielleicht erlebt der ein oder andere in seinem stillen Exil plötzlich eine Epiphanie oder traut sich nun wieder mehr die Nähe zu anderen Familienmitgliedern aufzusuchen. Denkbar sind viele individuelle Erzählungen, die wohl im Moment überall stattfinden und von einem neuen Zwischenleben handeln. Aufgeschlagene Lagerfeuer und gemeinsame Abende, die es eigentlich nur noch im Zeltlager gibt oder eben an Festtagen zum reinen Ritual verkommen sind.     
Überhaupt könnte man meinen, dass das Virus uns in seiner Unumgänglichkeit hilft entweder Verkümmerungen oder versäumten Entwicklungen voranzutreiben, die in der Vergangenheit viel diskutiert aber nur spärlich angegangen wurden. Ganz positivistisch formuliert, drängt uns das Corona-Virus zu dem, wofür die Deutschen allgemein weniger bekannt sind, nämlich zum disruptiven Handeln.  

Denn selbst die oft stets träge wirkende Politik zeigt sich in unseren Augen dieser Tage so leibhaft agierend und kompromisslos wie seit Jahren nicht mehr, wenn sie notgedrungen der Wissenschaft nacheifert und überraschenderweise ihre Macht gezielt einsetzt, diese Krise zu bewältigen.
Die Zeit, die wir hier in Isolation sitzen, ist eine generierte Erfahrung, nicht mehr und nicht weniger. Welche Erkenntnisse wir aus dieser Möglichkeit zur Kontemplation herausziehen, um die Welt danach wieder aufzubauen und neu zu formen, wirtschaftlich, kulturell und sozial, liegt ganz bei uns und hängt insbesondere davon ab, wie wir diese Zeit der Vorbereitung - nicht des Ausharrens - diesbezüglich nutzen. Hoffentlich mit Bedacht.

Montag, 6. Januar 2020

Die 10 Lieblingsalben - Teil 1 : Iron Maiden - "Brave New World"


Das neue Jahrzehnt hat begonnen und die guten Vorsätze sind entweder bei den meisten direkt wieder verworfen worden, gar nicht erst formuliert, oder doch eifrig im Gange. Zu meinen ernsthaften Absichten zählt dieses Jahr vorwiegend, dieses Ressort hier nicht aushungern zu lassen und das Schreibniveau weiter nach oben die Seite zumindest in unregelmäßigen Abständen mit Inhalt zu füttern. Im geistreichen Monolog mit meiner Selbst kam dann schnell der Wunsch danach, einmal die Top 10 der allerliebsten Alben ausführlich zu analysieren. Knapp jeden Monat ein Album, das passt vom Umfang betrachtet ohne überhand über allzu viele Lebensbereich zu besetzen. Für anderes gehaltvolles Geschreibe will ebenso noch Platz freigehalten sein. Kleine Warnung vorneweg : Toplisten sind wie immer subjektiv und im allgemeinen dämlich verknappend; insbesondere dann wenn man die Liste auf klägliche 10 Favoriten einzudämmen hat. Gibt ja schon allein mehr Musikgenres, wie soll man da bitteschön die besten 10 Alben rausfiltern ? – Idiot(!) Also behelfe ich mir mit einem psychologischen Trick und benenne diese Blogserie kurzerhand zu einer persönlichen Empfehlungsliste meiner 10 Lieblingsalben um, die man zumindest im Regal stehen haben sollte; respektive in der Bibliothek des Streaming-Anbieters abspeichern sollte.

Den Anfang der „Zehn empfohlene Lieblingsalben, die man in seinem Leben schon mal gehört haben sollte“ – Liste macht „Brave New World“ von Englands Metal-Urgesteinen „Iron Maiden“.
(Vorsicht ! Der vorliegende Beitrag enthält in erhöhtem Maße subjektive Meinungsäußerung!)

Dass sich Iron Maiden Anfang der 90er in einer Kreativitätskrise befanden und eine düstere Tiefphase bevorstand, hatte nur unmerklich mit zeitgeistigen Umständen zu tun. Bereits auf dem unterwältigenden „Fear of the dark“ merkte man der Avantgarde der „New Wave of British Heavy-Metal“ an, dass sie in ihren Reihen an interner Uneinigkeit litten. Gitarrist Adrian Smith hatte die Schnauze nach den zurückliegenden Synthie-Eskapaden auf „Somewhere in time“ und „Sevent Son of a Seventh Son“ gestrichen voll und beklagte, dass er in seinem kreativen Mitsprachrecht (wohl zurecht) übergangen werde. Der Ausstieg aus der Band folgte prompt- und Dickinson kurze Zeit später. An dessen Stelle trat mit Blaze Bailey ein Sänger, dessen Stimme für die nächsten Jahre weder in das Gesamtbild passte, noch in der Lage war die ominösen Alarmsirenenschreie von Dickinson zu reproduzieren; geschweige denn daran heranzureichen.

Glücklicherweise dauerte es allein zwei Alben bis wohl Steve Harris wieder zur Vernunft zurückkehrte und den Ruf der Marke vor schlimmsten Schaden abwehren konnte.  Mit der Vereinigung der Urformation im Jahr 1999, erweitert um den dritten Gitarristen Janick Gers, nahm die Band schließlich ihr Millenium-Album „Brave New World“ auf.
„Brave New World“ , das sich im Namen und entsprechend auch inhaltlich an Aldous Huxleys bekanntem Romanklassiker anlehnt, changiert zwischen alten, bereits etablierten Trademarks der Band. Dazu zählen galoppartige Gitarrensalven, intoniert von aneinandergereihten Triolen, messerscharfe, schnell nach vorn gerichtete Riffs, Variationen von ABAB-Songschemata und Ohrwurmmitsingzeilen. 
Darüber hinaus offenbart die Band aber auch einige progressivere Elemente, womit das Album passgenau auf die Welle von Dream-Theater und co. aufspringt. Gleichzeitig erlebt der totgeglaubte, klassische Heavy-Metal dadurch eine kleine Renaissance um die Jahrtausendwende. Doppelgitarren, ausufernde harmonische Solos und pointierte Orchestrierung bietet das Album am laufenden Band und muss sich mit dem temporeichen Doppel aus „The Wickerman“ und „Ghost oft the Navigator“ nicht vor frühen Klassikern und vergleichbaren Opening-Duos ala „Aces High“ und „2 Minutes to Midnight“ verstecken. 

Der namensgebende Titeltrack- ebenso typisch für tradierte Metal-Alben- bleibt größtenteils unaufgeregt und wirkt zwar mehr nach einer Fingerübung, überstrahlt poetisch gelesen andere Stücke aus der Diskografie allerdings bei weitem. Dickinson gibt sich zudem in Bestform und wird ärgerlicherweise in vielen Sequenzen um seine eigene Stimme gedoppelt. Freilich eine Geschmackssacke; zumindest hält sich der Einsatz künstlicher Verschlimmbesserung in Grenzen und seinie Gesangslage, die in den darauffolgenden Alben, insbesondere in „The Final Frontier“,teils in unerträgliches Gejohle abrutscht, schafft hier gerade noch den Spagat zwischen fremdschämender Theatralik und Gespür für kraftvolle Töne.   

Highlights sind auf der Platte unausweichlich die Songs mit Überlänge. Als Paradebeispiel dient etwa das an der neun Minutenmarke vorbeischrammende „Dream of Mirrors“, welchem es gelingt die insgesamt hervorragende Produktion und die räumliche Tiefe ebenso wie "The Nomad" mit am besten einzufangen. Zudem verlaufen die Stücke interessanten Spannungsbögen, die gar nicht mal so vorhersehbar sind und gekonnt zwischen Atmosphäre und metallischer Härte hin- und herwechseln. „The thin line between love and hate“ geht als Schlussnummer den umgekehrten Weg und beginnt zuerst mit aufgeladenen mid-tempo Gitarren und legt sich dann wie ein müder Löwe langsam zu Ruhe. Natürlich nicht ohne ein letztes Aufbäumen.   

Über allem steht jedoch „Blood Brothers“. Ein Lehrstück in Sachen progressiver Musik und zeitgenössischem Metal. Tempowechsel spürt man in dem fein säuberlich arrangierten 7-Minüter kaum, da die Übergänge nahtlos und ohne große Ansage harmonisch ineinander gleiten. Eine Eigenschaft, die dem Stück insgesamt einen angenehmen Fluss einverleibt, der mal sprudelt, dann wieder sanft dahinplätschert und schlussendlich in einem tosenden Gänsehautmoment gipfelt. „Blood Brothers“ verkörpert dabei Ballade, Stadionrock und Gitarrenmusik in einem, und das so grandios auf den Punkt gebracht, dass dem gesamten Album schlagartig, und bei jeglicher Kritik um Selbstreferenzialität, eine existenzielle Daseinsberechtigung verleiht wird.  

Wie bei jeder Scheibe der Briten findet sich jedoch auf „BNW“ das ein oder andere Füllstück, das gerne unter dem Titel „nett aber nicht nötig“ läuft. Die Filler heißen in dieser Analyse  „Fallen Angel“, „The Mercenary“ oder wahlweise auch „Out of the siltent planet“. Nähme man die drei aus der Rechnung raus, bliebe für den Zuhörer immer noch ein Album mit knapp 50 Minuten Laufzeit und einem beachtlichen Katalog, der zum Schwelgen und Entdecken einlädt. So bleibt unterm Strich ein leicht getrübter Höreindruck, der zwischendurch ein wenig Mittelmaß hinnehmen muss und man möchte sagen, Standardkost vorgesetzt bekommt. Stören werden sich daran eingefleischte Fans und Golden-Age-Syndrom-Befallene , die Alben wie „Piece of Mind“ und „Powerslave“ in einem direkten Vergleich anführen und ja sowieso nur die Erstlingswerke zu schätzen wissen.

Auch die sind nicht fehlerfrei und konstant auf einem Niveau, weshalb man etwas Material, das zu viel des Guten ist, aber billigend in Kauf nehmen darf. Dafür hat „BNW“ allen Maiden-Alben, inklusive aller bis dato erschienen Nachfolgewerke eines voraus. Und das ist das Geschenk einer wuchtigen und glasklaren Produktion im besten Sinne von Metallicas „Black Album“ oder Pink Floyds „Dark Side oft the Moon“. Der druckvolle Sound wirkt dabei niemals überproduziert, gibt jeder Spur seinen Akzent und lässt in den richtigen Momenten immer noch Raum für die nötige Dynamik. Ein Lehrstück eben, weshalb man nicht oft genug darauf hinweisen kann. Kaum überraschend, dass die Platte dieses Jahr bereits das zwanzigste Jubiläum feiert und noch immer nach frischer Pressung klingt. Ungeniert ließe sich Ahnungslosen aufschwatzen, das Album sei erst gestern im Laden erschienen, viele würden dem wahrscheinlich nicht widersprechen. Solche Musik, die nach zwei Jahrzehnten nichts von ihrer Wirkung und Strahlkraft eingebüßt hat, gehört damit zurecht verbreitet und wieder aufgegriffen. Und damit erst Recht in diese Liste.

(Anspieltipps : The Wickerman, Blood Brothers, The thin line between love and hate)


Sonntag, 22. Dezember 2019

Schwach War's - "Rise of the Skywalker" - Review


2019 endet bald und die meisten freuts sicherlich. Zurück liegt ein Jahr, das nicht unbedingt dank allzu schöner Erinnerungen glänzen konnte. Egal ob Chaos-Brexit, Chinas innerer Kampf gegen westliche Verhältnisse, Terroranschläge und Amokläufe in USA und Deutschland, das Aufleben der neuen Rechten in den Bundesländern und die, unter anderem anlaog verbundene, Hetze in sozialen Netzwerken, die damit einhergehende Degeneration von Diskussionskultur, Artikel 13 oder der ergebnislose Kampf einer jungen Generation gegen unökologisches, kapitalistisches Wachstum in Form zivilen Ungehorsams. 2019 macht einzig allein Lust auf den optimistischen Blick nach vorne. Und die zuletzt aufgenommene Frage nach den Grenzen des Wachstums und Konsums, sie stellt sich uns nicht nur weiterhin in der Zukunft. Abgesehen von der Geschenkkultur der weihnachtlichen Festtage, befeuert und provoziert durch die Marketingmaschinerie von Onlineversandhandelsriesen, scheint die Proklamation einer Gleichsetzung von „mehr“ und „besser“ nun endgültig auch in der Blockbuster-Philosophie verankert zu sein. 

So zu sehen im letzten Teil der Star-Wars Sequels „Rise of the Skywalker“, dessen erschreckende Gleichgültigkeit 2019 wohl ebenso wenig retten wird.
Aber nochmal ganz von vorne angefangen. Der Imperator hat, wie direkt in den Opening-Crawls verkündet, irgendwie seit der Zerstörung des zweiten Todessterns überlebt und ist zur Genervtheit aller zurückgekehrt. Natürlich noch stärker und mächtiger als zuvor - mit einer Armee aus Sternenzerstörern, noch größer und mächtiger als zuvor. Die erste Ordnung, desolat angeschlagen und unter der Leitung des hasserfüllten Darth-Vader Epigonen Kylo Ren geknechtet, versucht derweil sich der Armee des Imperators zu bedienen um die Kontrolle über die Galaxie zu erlangen. 

Dazwischen stehen allerdings die altbekannten Helden, die das Glück hatten bis zum Ende von Episode 8 zu überleben, bzw. dem Publikum offenbar so gut gefielen, dass die Drehbuchschreiber sie für weiterhin verwertbar eingestuft haben. Allen voran Hauptprotagonistin und Jedi-Naturtalent Ray, die unermüdlich ihre Fähigkeiten trainiert und sich unter der Obhut von General Prinzessin Leia für die finale Konfrontation vorbereitet. Durch einen Spion in den Reihen der ersten Ordnung gelingt es den Widerstandskämpfern schließlich Informationen über das Überleben des Imperators und seiner Armee in der Hinterhand zu ergattern. Exegol, dessen Sternensystem und der Planet selbst sind jedoch niemandem geläufig, weshalb der Grundstein für den ca. zweieinhalb stündigen Plot hiermit gelegt wurde. Was folgt ist eine videospieleske Quest, in der Ray, Finn, Poe, Chewie und C3PO alles daran setzen den Aufenthaltsort der Sith, der Anti-Jedi Fraktion ausfindig zu machen. Diese Situation wird in der ersten fünfzehn Minuten bereits klar umrissen und auch nicht weiter ausgeweitet, weshalb der Film sich einer Geradlinigkeit angleicht, die vor allem unter chronischer Spannungsarmut und Vorhersehbarkeit einhergeht. Dabei sind das noch die geringeren Übel, die der letzte Teil der Sage notgedrungen mit sich schleifen muss.

Ein Impuls, zwei Tage nach dem ich den Film im Kino gesehen hatte, lautete unweigerlich, dass der Film als langweilig fabrizierte Unterhaltung für regnerische Sonntag-Nachmittage im Heimkino herhält. Kurzum, der Film ist vielleicht mit einer Flasche Bier und ein paar Freunden anschaubar, bleibt im Großen und Ganzen Mist. Und gleichsam bildet er einen krönenden Abschluss für das symptomatisch erkrankte Blockbuster-Kino in diesem Jahr, das man vor allem Disney und seiner Profit-orientierten Produktvermarktung in die Schuhe schieben möchte. Diese kalkuliert ihre Produktionen anhand von Testscreenings und garantiert mit etlichen Kontrollprozessen und Drehbuchschreibern, sich nie zu weit aus dem Fenster zu lehnen, immer auf Nummer sicher zu spielen, den Franchisegedanken zu berücksichtigen und in Konsequenz die Marke immer über die Kreativität und Visionen einzelner zu stellen. Scorsese lässt grüßen.

Gepaart mit der Unfähigkeit von J.J. Abrams sinnvolle und originelle Geschichten zu erzählen, bleibt der Abschluss der Saga nicht nur eine despektierliche Schändung der vorangegangen Episoden 4-6, sondern darüber hinaus ein gescheitertes Produkt, das als Negativbeispiel für lieblos zusammengeklatschtes Blockbusterkino herhalten kann. Lässt man den arg konstruierten Handlungsbogen, falls man das wirklich noch als ein Bogen mit Krümmungen bezeichnen kann, außen vor, dann gleicht Episode 9 wie auch Avengers Endgame dieses Jahr, einer einzigen Neuauflage von bereits tausendfach reproduzierten und gewollt aneinandergereihten Bildern, wie sie den Zuschauer weder zu überraschen, noch zu überzeugen wissen. Am Ende hat der Kinogänger viele Szenen aus Star-Wars gesehen, aber keinen wirklichen Film. Episode 9 und sein nostalgisch vereinnahmter Regisseur sehen sich außerdem, ähnlich dem „Erwachen der Macht“, allein darum bemüht den archetypischen Originalen zu entsprechen; und versucht diese Reminiszenzen allein größer, scharfer, glattgebügelter und polierter darzustellen. Den Geist und die Handwerkskunst der Originaltrilogie sucht man hier aber vergebens,  weshalb ein gewisse visionäre Kraft und Bildsprache, für die man ebenso Episode 1-3 lobend erwähnen muss, völlig fehlt.

Behelfen möchten sich Disney und Abrams dann offenbar über eine emotionale Bindung und mit bedeutungsschwangeren, inhaltsleeren Dialogen, die da lauten „Ich werfe einen letzten Blick auf meine Freunde“, „das ist unsere letzte Hoffnung“, „wir hatten damals nur einander“ oder „ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache“. Fairerweise findet man solche Schmonzetten ebenso in den ersten Teilen der Saga und das Pathos ist und bleibt nun einmal Konzept der Sci-Fi Opera. Aber auch Kitsch will gelernt und gekonnt sein, und davon versteht der letzte Teil der Weltraumsaga beim besten Willen so viel wie von gut inszenierten Actionfahrten. Letztere sind so hektisch, zersplittert und uninspiriert, dass man zusammen mit dem nur spärlich akzeptablen Pacing, sich allzeit ruhigere, wahrlich gefühlvolle Momente herbeisehnt, oder wieder an die grandiosen Szenen aus anderen Episoden denken muss.

Abgesehen von Ray und Kylo-Ren, deren Verhältnis und Ahnenkonflikt glücklicherweise einen verfolgungswerten roten Faden zieht, kann keiner der Nebendarsteller mit gleichwertigem Interesse punkten. Es fallen zwar zahlreiche Andeutungen, von denen man sich am Ende eine Auflösung verspricht, aber Zugeständnisse fallen hier nicht. So gab es seit Episode 7 die Vermutungen um Poe als schwul orientierten Charakter, was dem Universum eine weitere, erfrischende Note hinzugefügt hätte. Mehr als Schein und bedeutungsloses Vorgeschichtengeplänkel wird man von ihm aber nicht zu hören bekommen. Offenbar möchte es sich Disney mit China nicht verscherzen. Umarmungen sind daher dass Maximum der Gefühle. Und apropos Gefühle.    

Man könnte stundenlang über den geglückten, organischen Einsatz von Musik aus den ersten Filmen schwelgen und warum dies ein so großes Versäumnis der neuen Trilogie im allgemeinen ist. John Williams war einst in der Lage mit seinen orchestralen, epischen anmutenden und teils unvergesslichen Arrangements einen legendären Soundtrack kreieren, den jeder heute mitsummen kann. Musikstücke, die bisweilen nicht nur in ihrer malerischen Funktion auf der Leinwand gefielen und funktionierten, sondern abseits davon ganze Konzerthallen füllen konnten. Obwohl selbiger Komponist der Serie treu geblieben ist, spürt und hört man in keinem der neuen Teile den winzigsten Hauch von der Musikalität dieses Genies. Der Score ist hier zum Hintergrundrauschen verkommen, welches ab und zu die Stimmungslage entsprechend wechselt, sich aber nie in den Vordergrund drängt, was fast einem feigen Versteckspiel entspricht. Wer diesen Aspekt zuletzt unterbewertet, hat nie die Bedeutsamkeit der Kompositionen verstanden und solle bitte noch einmal den Angriff auf den zweiten Todesstern, den Marsch der imperialen Flotte, oder den Flug durch das Asteroidenfeld genau in Augenschein, bzw. Ohrenschein nehmen. Mit Nostalgie und Golden-Age Syndrom hat das nun wahrlich nichts zu tun. So ging einst Dramatik in Filmen. Es scheint nur, Abrams und seine Crew wissen um das Handwerk von Kameraarbeit, Szenenaufbau und Charakterentwicklung nicht mehr allzu viel Bescheid. Vielleicht spielt es für sie auch keine Rolle.

Episode 9 legt damit tatsächlich seine eigene Problematik offen und schiebt die Diagnose gleich hinterher. So fällt im Film die Frage, wie es denn damals gelinge konnte, dass die Rebellen die Zerstörung des Todessterns und die Zerschlagung des allmächtigen Imperiums bewerkstelligen konnten, obwohl sie doch klar in der Unterzahl waren und ihre Mittel begrenzt schienen ? Genau so stellt sich mir unmittelbar die Frage, wie konnte die erste Sage mit wenigen Millionen Budget zu solch einem Meisterwerk avancieren ?  Die Antwort liegt wohl im Zeitgeist, in der visionären Kraft, in der schöpferischen Freiheit und im Willen weniger Menschen, etwas großartiges zu leisten. Star Wars 9 und seine zwei direkten Vorgänger sind so gut wie nichts davon, dafür aber ein Franchise-Produkt aus dem Lego Fanbaukasten von 1977, welches mit Allzweckreiniger poliert und auf dem Silberteller serviert wurde. Wer damit schon in seiner Kindheit gespielt hat, dem zucken die Finger es anzufassen und auszuprobieren. Wer sich traut, lässt dann einen kritischen Blick darauf fallen und entsorgt das Ding prompt im Mülleimer. Denn „Rise of Skywalker“ ist nicht mehr als ein teures, platzverschwendendes Spielzeug aus der Marketingabteilung, das nochmal zur Hochsaison verschenkt wird. In diesem Sinne, frohe Weihnachten!

Samstag, 7. Dezember 2019

Sternenlicht


Gesenktes Haupt, schwer geneigt
kecke Blicke abzuwenden
Ein Untertan zu jeder Zeit,
gefesselt in beiden Händen.

Kleine Welten, strahlen verlegen
Über dir, merkst du nicht,
die Herzen niemals regen,
weilst blind im Sternenlicht.