Im Chinesischen (*Mandarin) bedeutet das selbe Wort für
„Krise“ gleichzeitig „Chance“. Bezeichnend dafür, dass das COVID-19 Virus
ausgerechnet in der Chinesischen Provinz Hubei seinen Ursprung fand und in den
Augen der Meisten hierzulande wohl als weltveränderndes Problem wahrgenommen
wird. Ja, die Welt nach Corona wird eine andere sein, denn der Blick auf die
wirtschaftliche Entwicklung ist vielleicht das, was uns dieser Tage am meisten
Sorgen bereitet. Nicht die Mortalitätsrate oder die exponentiell steigende
Ansteckungskurve, die wir bei aller Anstrengung möglichst weit zu strecken suchen,
sorgen für Panik, sondern der weitgehende Stillstand oder gar das drohende
Erliegen unserer Versorgung und der Arbeit. Denn wir wissen, mit dem Virus wird
die medizinische Forschung früher oder später fertig werden. Ein Impfstoff ist
nur eine Frage der Zeit, nicht des Geldes oder anderer Mittel. Die Menschheit
wird bestehen bleiben. Wir haben doch schon Schlimmeres durchgestanden und
überlebt. Manch einer neigt gar dazu das Virus derlei zu bagatellisieren, dass
er bedenkenlos andere einer Infektionsgefahr ausliefert.
Ich wage daher zu behaupten, dass die größte Angst dieser
Tage allein von der ungewissen Aufhebung des gegenwärtigen Ausnahmezustandes
gespeist wird. Niemand weiß wie lange wir unser derzeitiges Leben unter diesen
Umständen weiterleben müssen. Wir scheren uns nicht um den Zwang und die
Verbote, die Einschränkung der Freiheitsrechte, denn die grundlegende
Versorgung steht stabil und der Großteil von uns weiß, diese Maßnahmen dienen
dem einzigen Zweck unser aller Überleben zu sichern. All diese Veränderungen
wirken fremd, sind aber logisch rational und wirken daher keineswegs wie etwas,
das unser Gehirn nicht verarbeiten könnte.
Das Filmgefühl, das Surreale, das nun greifbar scheint,
spüren wir allerdings am eigenen Leibe, da sich uns eine neue Form der Realität
entgegenstellt. Eine Realität, die mit unseren bisherigen Gewohnheiten bricht
und die uns jederzeit konfrontiert, gehen wir Einkaufen oder verfolgen wir die
neuesten Medienberichte, dann wird eine Stimme in uns laut, der wir stets
beschwichtigen müssen, gerade nicht einem Traum beizuwohnen. Dass wir all das
gerade erleben, dass wir plötzlich Verhältnisse verändernde Weltgeschichte am
eigenen Leib widerfahren und mit Glück in ein paar Monaten darauf zurückblicken
können, wenn wir hoffentlich wieder aus dem Corona-Schlaf erwachen dürfen, all
das liegt schwer im Magen und wir können nur vermuten wie die Welt nach der
Pandemie aussehen wird.
Bis dahin bleiben uns, neben der Pflicht zu solidarischem
Gesundheitsverhalten, einige Umstände, die ich als Chancen verstehen möchte,
die sich durch diese außergewöhnliche Situation bieten. Denn wie von vielerlei
zurechnungsfähigen Kanälen zuvor angemerkt wurde, ist Panik und Verzweiflung
erst recht fehl am Platz. Sicher, neben den zahlreichen Verlusten und
Rückschlägen, die wir verzeichnen und noch in Zukunft verbuchen müssen, ist es
zu bedauern, dass unser soziales Leben und unsere Kultur heuer derartigen
Schranken unterworfen bleibt.
Überhaupt erfüllt die physische Öffentlichkeit eine postapokalyptischen
Ruhe, als hätte man einen Großteil aller Noten aus einem Musikstück entfernt
und mit Leerpausen ersetzt. Trauerstimmung oder auch Bedrückung, welche
durchaus nachvollziehbar scheinen, ändern die Lage jedoch nicht, weshalb wir
uns lieber fragen sollten, wie wir mit dieser Situation umgehen und wieso wir
die Dinge missen, die wir nun schmerzhaft vermissen?
Die Zeit, unser zwischenmenschliches Leben, die Gesellschaft
und die Kultur zu hinterfragen, ist jetzt da und es steht uns gewissermaßen frei,
von dieser Zeit zu schöpfen und uns Dingen zu widmen, für die wir uns bisher zu
Schade waren, größere Anstrengungen und Mühen aufzubringen. All die Fragen an
unsere eigene Zukunft, die Hektik und der Stress, welche noch vor ein paar
Wochen dominierten und auf unseren Schultern lasteten, wurden nun dankbar weggenommen,
ob gewollt oder nicht. Wir sollten deswegen nicht ständig danach trachten, wann
wir zum gewohnten Leben zurückkehren dürfen, es liegt ohnehin nicht – zumindest
nicht direkt - in unserer Hand; vielmehr sollten wir uns fragen, welche Chancen
sich jetzt auftun ? Mir sind dabei einige Denkanstöße aufgrund von
Beobachtungen eingefallen, die ich gerne zum Anregen teile.
Beispielsweise erkennen wir durch die angepassten Umstände
nicht, welchen Stellenwert gewisse Arbeiten im Eigentlichen für uns besitzen ? Arbeiten,
die die Pfleger, Kassierer und Transportdienstleister dieses Landes ausüben und
nun die grundlegendsten und gleichzeitig wichtigsten Bedürfnisse gewährleisten.
Arbeiten, die zuvor offenbar wenig wertgeschätzt und entlohnt wurden und nun in
der Krisenzeit scheinbar mehr bedeuten als zuvor. Können wir uns nicht
wahnsinnig glücklich schätzen, ein solch materiell gut ausgestattetes
Gesundheitssystem mit hart arbeitendem, medizinischen Personal vorzufinden ? Und
warum haben wir die Pflege lange Jahre so derart vernachlässigt ? Jetzt rächt
es sich schlagartig und wir sind hoffentlich schlauer. Einige Personen haben
diese Tatsache schon erkannt und applaudierten daher ungeniert vor Fenstern oder
bekannten diese Honorierung in den sozialen Medien.
Selbst das Klima profitiert auf indirektem Wege von der Epidemie,
denn dass sich die Menschen in ihre Behausungen zurückziehen müssen, ermöglicht
der Natur Raum zurückzugewinnen und eine Regeneration von der industriellen
Belastung, hört man etwa Geschichten aus Italien, wo Flüsse plötzlich wieder sauber
werden, oder von Berichten aus China über den spürbaren Rückgang der städtischen
Luftverschmutzung.
Wir verstehen nun mitunter auch, welch enorme Wichtigkeit
die digitale Vernetzung und das Internet als sozialer Raum für unser Leben einnimmt.
Ganze Unternehmen machen sich daher gezwungenermaßen über die Digitalisierung Gedanken,
denn das Home-Office und der Onlinezugang rücken nun stärker in den Fokus. Darüber
hinaus stehen die vielen Möglichkeiten des E-Learning durch Foren, entsprechende
Webseiten und Video-Portale zur Verfügung, welche uns helfen völlig autodidaktisch
neue Lerninhalte anzueignen oder interessenorientiert einem (möglicherweise neuen)
Hobby nachzugehen – Stichworte Weiterbildung und lebenslanges Lernen.
Diesbezüglich sehen wir auch den ausgedehnten Wohlstand
innerhalb der elektronischen Unterhaltungsindustrie. Alleine die
Beschäftigungsmöglichkeiten, die sich uns heute durch das Netz und die neuen
Medien bieten sind gewaltig; so sehr, dass uns gar nicht langweilig werden
kann. Die Quarantäne schafft die Gelegenheit all die Filme, Serien, Alben,
Bücher und Spiele nachzuholen und zu genießen, die wir oftmals notorisch im
Alltagsfluss untergehen lassen. Wenngleich ich nicht behaupte möchte, man soll
die Zeit der eigenen Isolation allein mit Bespaßung und Unterhaltung vorantreiben.
Vielmehr öffnen sich uns jetzt die Ruhezonen, die eine ganzheitliche Befassung
mit diesen Dingen ermöglichen.
Dazu zählt auch eine Befassung mit uns selbst. Und ich wage
eine weitere These aufzustellen, dass die wenigsten, mit Ausnahme von
besinnlichen Weihnachtsabenden, bewusst die einsamen Momente ergreifen und den
Mut fassen, in sich zu gehen und existenzielle Gedanken über das Leben
auszuformulieren. Vielleicht erlebt der ein oder andere in seinem stillen Exil
plötzlich eine Epiphanie oder traut sich nun wieder mehr die Nähe zu anderen
Familienmitgliedern aufzusuchen. Denkbar sind viele individuelle Erzählungen,
die wohl im Moment überall stattfinden und von einem neuen Zwischenleben
handeln. Aufgeschlagene Lagerfeuer und gemeinsame Abende, die es eigentlich nur
noch im Zeltlager gibt oder eben an Festtagen zum reinen Ritual verkommen sind.
Überhaupt könnte man meinen, dass das Virus uns in seiner
Unumgänglichkeit hilft entweder Verkümmerungen oder versäumten Entwicklungen voranzutreiben,
die in der Vergangenheit viel diskutiert aber nur spärlich angegangen wurden.
Ganz positivistisch formuliert, drängt uns das Corona-Virus zu dem, wofür die
Deutschen allgemein weniger bekannt sind, nämlich zum disruptiven Handeln.
Denn selbst die oft stets träge wirkende Politik zeigt sich in
unseren Augen dieser Tage so leibhaft agierend und kompromisslos wie seit
Jahren nicht mehr, wenn sie notgedrungen der Wissenschaft nacheifert und überraschenderweise
ihre Macht gezielt einsetzt, diese Krise zu bewältigen.
Die Zeit, die wir hier in Isolation sitzen, ist eine generierte
Erfahrung, nicht mehr und nicht weniger. Welche Erkenntnisse wir aus dieser Möglichkeit
zur Kontemplation herausziehen, um die Welt danach wieder aufzubauen und neu zu
formen, wirtschaftlich, kulturell und sozial, liegt ganz bei uns und hängt insbesondere
davon ab, wie wir diese Zeit der Vorbereitung - nicht des Ausharrens -
diesbezüglich nutzen. Hoffentlich mit Bedacht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen