Dienstag, 2. Juni 2020

Die 10 Lieblingsalben - Teil 3 : Die Ärzte - "Rock'n Roll Realschule"

Redet man im Allgemeinen über Deutsche Pop- und Rockmusik, dann kommt man zwangsweise schwer an der Band „Die Ärzte“ vorbei. Im Jahr 2002, lange nach ihrer Wiedervereinigung, erfüllte sich das Berliner Trio einen Traum und folgte den Wegen von Künstlern Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier, die bis dahin als einzige Deutsche Vertreter ein MTV-Unplugged aufgenommen hatten. In gewohnt typischer Ärzte-Manier sollte dieses Ereignis natürlich besonders kreativ und unkonventionell ausfallen. So war es letztlich Schlagzeuger Bela, der die zündende Idee vorbrachte, ein Unplugged mit Begleitung von Schulchor und -orchester umzusetzen. Es folgte eine landesweite Ausschreibung an Schulen, die sich für das Unplugged bewerben konnten. Als Wahl der ersten Stunde fiel die Entscheidung damals auf das Albert-Schweizer Gymnasium in Hamburg, wo das Konzert am 31. August in der zugehörigen Aula prämierte und später unter dem ironischen Titel „Rock’n Roll Realschule“ veröffentlicht wurde. Ein Wagnis, das aus damaliger Sicht wie heute noch erstaunt und in seinem Ergebnis den Test der Zeit eindeutig bestanden hat.

Während die erste Hälfte der Setlist ganz im Zeichen der drei Berliner Punk-Ikonen steht und lediglich mit Unterstützung des Perkussionisten Markus Paßlick bestritten wurde, brilliert die zweite Hälfte dann vor allem dank den gelungenen Arrangements, die interessanterweise aus der Zusammenarbeit von Bassist Rod Gonzales und seinem alten Musiklehrer hervorgingen. Innerhalb der neunzehn Titel (CD) bedienen die Musiker dabei eine ausgiebige Palette an Instrumenten, die man in dieser beachtlichen Breite selten vorfindet. Das beginnt bei Mundorgel und Sitar, zieht vorbei an einer singenden Säge und Metallschrott, bis hin zu Xylophon, Didgeridoo und Banjo. Allein diese Kreativität verspricht im Voraus ein kunterbunter Spaß zu werden. Und ebenso vielfältig wie die Instrumentierung, gestaltet sich letztlich mit Freude das abwechslungsreiche Programm.   
Als fast schon zum Spätwerk zählenden Schaffen der Band schöpft das Album aus dem vollen Katalog und listet diverse Klassiker auf, so dass dem gemeinen Fan nur wenig Wünsche offen bleiben. Auftakt findet das Konzert mit den politisch tragfähigen Songs wie der Anti-Nazi Hymne „Schrei nach Liebe“, direkt gefolgt von der Vegetarier-Hymne „Ich ess Blumen“. Erstmalig Prämiere feiert außerdem ein Song namens „Monsterparty“, typisch durchsetzt von Wortspielen und Popkulturzitaten, ganz wie von der bästen Band der Welt erwartet.
Hits wie „Westerland“ und „Zu spät“ kommen danach ebenso wenig zu kurz wie Blödeleien im Stile von „Kopfhaut“ und „Meine explodierte Freundin“; stets begleitet von den Markzeichen, spontaner Textabwandlungen und humoristischen Seitensprüngen in Zwischenansagen, die dem Hörer auch Jahre später noch ein dickes Grinsen ins Gesicht zaubern.

Neben all dem freudvollen Juxen und pubertärem Quatsch sind es dann wiederum die anderen, gefühlvollen Momente, in denen doch ein Hauch Ernsthaftigkeit durchschimmert, und die im Laufe der Zeit zu den absoluten Highlights der Liveaufnahme avancieren. Das orchestrale „Mit dem Schwert nach Polen“, das fast schon aus dem Rahmen herausfallende Liebeslied „1/2 Lovesong“ und die vormals melancholische Stadionrocknummer „Der Graf“ sind solche Exemplare, die von der analogen Transportierung und dem atmosphärischen Gewand nochmals an ganz neuer Qualität gewinnen. Wo beispielsweise Metallica zu ihrer Zeit den brachialen Stadionrock vergleichsweise simpel mit Streichern und Bläsern plump aufgeplustert und lieblos untermalten, gehen die Ärzte um einiges charmanter und origineller vor; weshalb man dieses Album nicht nur als Fan der Band gehört haben sollte.

Loben, muss man wirklich diese Arrangements und Performance der Schüler auf ganzer Linie; mag auch punktuell nicht alles in Perfektion aufgehen und zum Paradebeispiel taugen. Hier und da vermischen sich mal Orchesterstimmen allzu sehr im verworrenen Klangbrei und die Backgroundsängerinnen haben grundsätzlich Mühe und Not ihren juvenilen Stimmen Gehör zu verleihen. Darüber kann man jedoch völlig hinwegsehen, denn schließlich spielt man lediglich zum Spaß an der Musik - und zwar in einer Schulaula und nicht in der Elbphilharmonie.

Hervorzuheben ist in der Retrospektive noch der zum Sterben schöne Schlusspunkt „Manchmal haben Frauen“ – aus heutiger Sicht definitiv einer der faszinierendsten Deutschen Unplugged-Songs. Wenn ein Mädchenschulchor zu romantischen Streichern die Zeile „Manchmal haben Frauen ein kleines bisschen Haue gern“ singt und dann im Anschluss korrigierend hinzusetzt „Immer, ja wirklich immer, haben Typen wie du was auf die Fresse verdient“, wirkt das nicht zuletzt in Anbetracht von Diskussionen um die angebliche Instrumentalisierung von Kinderchören („Meine Oma ist ne alte Umweltsau“) und toxischer Männlichkeit auf eine bizarre Art und Weise überaus versöhnlich und ehrlich; womit im Übrigen auch beschworene Generationenkonflikte, den so mancher heute im politischen Diskurs gerne sucht, mal eben negiert wird. Denn das größte Kompliment, das man der Band und Schülern für dieses Gesamtkunstwerk machen darf, ist, dass es wohl keinen besseren Beweis für den Dialog zwischen verschiedenen Altersgruppen gibt, als eine gemeinsame Sprache zu suchen. Und in diesem Falle heißt diese Sprache „Musik“, der Dialog „Unplugged“ und der Beweis „Die Ärzte“.

Anspieltipps :

„Manchmal haben Frauen“  Link
„Mit dem Schwert nach Polen“ Link
„Ignorama“ Link

Auch sehenswert, das Making-Of :  Link

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