Redet man im Allgemeinen über Deutsche Pop- und Rockmusik, dann kommt man
zwangsweise schwer an der Band „Die Ärzte“ vorbei. Im Jahr 2002, lange nach ihrer
Wiedervereinigung, erfüllte sich das Berliner Trio einen Traum und folgte den Wegen von Künstlern
Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier, die bis dahin als einzige Deutsche
Vertreter ein MTV-Unplugged aufgenommen hatten. In gewohnt typischer Ärzte-Manier
sollte dieses Ereignis natürlich besonders kreativ und unkonventionell ausfallen.
So war es letztlich Schlagzeuger Bela, der die zündende Idee vorbrachte, ein
Unplugged mit Begleitung von Schulchor und -orchester umzusetzen. Es folgte
eine landesweite Ausschreibung an Schulen, die sich für das Unplugged bewerben
konnten. Als Wahl der ersten Stunde fiel die Entscheidung damals auf das
Albert-Schweizer Gymnasium in Hamburg, wo das Konzert am 31. August in der zugehörigen
Aula prämierte und später unter dem ironischen Titel „Rock’n Roll Realschule“ veröffentlicht
wurde. Ein Wagnis, das aus damaliger Sicht wie heute noch erstaunt und in
seinem Ergebnis den Test der Zeit eindeutig bestanden hat.
Während die erste Hälfte der Setlist ganz im Zeichen der drei
Berliner Punk-Ikonen steht und lediglich mit Unterstützung des Perkussionisten Markus
Paßlick bestritten wurde, brilliert die zweite Hälfte dann vor allem dank den
gelungenen Arrangements, die interessanterweise aus der Zusammenarbeit von Bassist
Rod Gonzales und seinem alten Musiklehrer hervorgingen. Innerhalb der neunzehn
Titel (CD) bedienen die Musiker dabei eine ausgiebige Palette an Instrumenten, die
man in dieser beachtlichen Breite selten vorfindet. Das beginnt bei Mundorgel
und Sitar, zieht vorbei an einer singenden Säge und Metallschrott, bis hin zu
Xylophon, Didgeridoo und Banjo. Allein diese Kreativität verspricht im Voraus
ein kunterbunter Spaß zu werden. Und ebenso vielfältig wie die Instrumentierung,
gestaltet sich letztlich mit Freude das abwechslungsreiche Programm.
Als fast schon zum Spätwerk zählenden Schaffen der Band schöpft
das Album aus dem vollen Katalog und listet diverse Klassiker auf, so dass dem
gemeinen Fan nur wenig Wünsche offen bleiben. Auftakt findet das Konzert mit den
politisch tragfähigen Songs wie der Anti-Nazi Hymne „Schrei nach Liebe“, direkt
gefolgt von der Vegetarier-Hymne „Ich ess Blumen“. Erstmalig Prämiere feiert außerdem ein
Song namens „Monsterparty“, typisch durchsetzt von Wortspielen und Popkulturzitaten,
ganz wie von der bästen Band der Welt erwartet.
Hits wie „Westerland“ und „Zu spät“ kommen danach ebenso
wenig zu kurz wie Blödeleien im Stile von „Kopfhaut“ und „Meine explodierte Freundin“;
stets begleitet von den Markzeichen, spontaner Textabwandlungen und humoristischen
Seitensprüngen in Zwischenansagen, die dem Hörer auch Jahre später noch ein dickes
Grinsen ins Gesicht zaubern.
Neben all dem freudvollen Juxen und pubertärem Quatsch sind
es dann wiederum die anderen, gefühlvollen Momente, in denen doch ein Hauch
Ernsthaftigkeit durchschimmert, und die im Laufe der Zeit zu den absoluten
Highlights der Liveaufnahme avancieren. Das orchestrale „Mit dem Schwert nach
Polen“, das fast schon aus dem Rahmen herausfallende Liebeslied „1/2 Lovesong“
und die vormals melancholische Stadionrocknummer „Der Graf“ sind solche
Exemplare, die von der analogen Transportierung und dem atmosphärischen Gewand
nochmals an ganz neuer Qualität gewinnen. Wo beispielsweise Metallica zu ihrer
Zeit den brachialen Stadionrock vergleichsweise simpel mit Streichern und
Bläsern plump aufgeplustert und lieblos untermalten, gehen die Ärzte um
einiges charmanter und origineller vor; weshalb man dieses Album nicht nur als
Fan der Band gehört haben sollte.
Loben, muss man wirklich diese Arrangements und Performance
der Schüler auf ganzer Linie; mag auch punktuell nicht alles in Perfektion
aufgehen und zum Paradebeispiel taugen. Hier und da vermischen sich mal
Orchesterstimmen allzu sehr im verworrenen Klangbrei und die Backgroundsängerinnen
haben grundsätzlich Mühe und Not ihren juvenilen Stimmen Gehör zu verleihen. Darüber
kann man jedoch völlig hinwegsehen, denn schließlich spielt man lediglich zum Spaß an der Musik - und zwar in einer
Schulaula und nicht in der Elbphilharmonie.
Hervorzuheben ist in der Retrospektive noch der zum Sterben schöne Schlusspunkt „Manchmal haben Frauen“ – aus heutiger Sicht definitiv einer der faszinierendsten
Deutschen Unplugged-Songs. Wenn ein Mädchenschulchor zu romantischen Streichern
die Zeile „Manchmal haben Frauen ein
kleines bisschen Haue gern“ singt und dann im Anschluss korrigierend
hinzusetzt „Immer, ja wirklich immer,
haben Typen wie du was auf die Fresse verdient“, wirkt das nicht zuletzt in
Anbetracht von Diskussionen um die angebliche Instrumentalisierung von
Kinderchören („Meine Oma ist ne alte Umweltsau“) und toxischer Männlichkeit auf
eine bizarre Art und Weise überaus versöhnlich und ehrlich; womit im Übrigen auch
beschworene Generationenkonflikte, den so mancher heute im politischen Diskurs gerne
sucht, mal eben negiert wird. Denn das größte Kompliment, das man der Band und
Schülern für dieses Gesamtkunstwerk machen darf, ist, dass es wohl keinen
besseren Beweis für den Dialog zwischen verschiedenen Altersgruppen gibt, als eine
gemeinsame Sprache zu suchen. Und in diesem Falle heißt diese Sprache „Musik“,
der Dialog „Unplugged“ und der Beweis „Die Ärzte“.
Anspieltipps :
„Manchmal haben Frauen“ Link
„Mit dem Schwert nach Polen“ Link
„Ignorama“ Link
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