Sonntag, 26. April 2020

Die 10 Lieblingsalben – Teil 2 : Porcupine Tree : „Fear of a blank planet“


Noch bevor Corona und Klimawandel zu gesellschaftlichen Inbegriffen der neuen politischen Jugend werden sollten, gab und gibt es eine verdeckte Problematik, die dieselben Jugendlichen betrifft, ohne dass sie möglicherweise ein Gespür dafür entwickeln konnten. Die Rede ist hier vom Verschwinden der Kindheit. Ganz im Sinne des Soziologen Neil Postman, der 1982 im gleichnamigen Buch, darauf hinweisen wollte, dass Kindheit primär als ein soziales Konstrukt zu verstehen sei, welches sich seit der Erfindung des Buchdrucks durch eine omnipräsente und tief verwurzelte Literalität konstituierte.
Die Fähigkeit des Lesens trennt die Inhalte und Geheimnisse der Erwachsenenwelt von den Augen und Gedanken der Kinder. Erst im langsamen Reifeprozess, durch den mühsamen und reifenden Erwerb der Lesefähigkeit und der Abstraktion, überwindet ein Kind die Schwelle zum Erwachsensein. 

Wie kann aber im 21. Jahrhundert ein Kind noch Kind sein, wenn durch Bildmedien wie Fernsehen und Internet die Schwelle plötzlich verschwindet und Informationen ungefiltert die Augen jedes Menschen gleichermaßen erreichen ? Wenn zwischen Kindern und Erwachsenen kein Unterschied besteht, da keine Fähigkeit zur Informationsaneignung mehr von Nöten ist ? Wenn ihrer beider Wahrnehmungswelten miteinander verschmelzen; sie ein und dieselben sind ? Dann verschwindet das, was wir im sozialen, nicht biologischen Sinne, als Kindheit bezeichnen.        

Ob Steven Wilson, der gemeinhin als derzeitiger Frontkämpfer der Progressive-Rock Bewegung angesehen werden kann, zur damaligen Zeit Postman gelesen hat, lässt sich nur mutmaßen. Das Album „Fear of a blank planet“, welches der heutige Solokünstler mit seiner einstigen Band Porcupine Tree im Jahr 2007 veröffentlichte, scheint der Thematik jedoch arg verbunden. Die Angst vor einer menschenleeren Welt, bezeichnet nicht etwa – wie gegenwärtig annehmbar – die Extinktion durch einen Virus oder einen globalen Krieg, sondern verhandelt die Epidemie des Kindheitssterbens durch den Technikwandel und, unter anderem damit korrespondierenden, sozialen Missverhältnissen.

Befürworter der uneingeschränkten Digitalisierung und Akteure der Tech-Unternehmen, die von der Freiheit und den unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Medien predigen, vergessen in ihrer Argumentation oft, dass die neuen Nutzungsmöglichkeiten und Kommunikationswege, die Art und Weise wie Menschen denken und die Welt wahrnehmen erheblich verändern. Die Prämisse, alle - also die Gesellschaft als Ganzes - würden in gleichem Maße von den Prozessen der Digitalisierung profitieren, ist a priori falsch. Hinzu kommt nämlich, dass mediale Kompetenz keineswegs angeboren ist und der Umgang und die Bewertung mit den darin präsentierten Inhalten eine Herausforderung darstellt, die Beherrschung, Rationalität und Literalität voraussetzt. Dinge, die ein Kind erst lernen müsste, bevor es sich diesen Medien und Inhalten wirklich kritisch und aufgeklärt gegenüber positionieren kann.

Wo aber die Milieus ohnehin soziale Defizite aufweisen und von Bildungsferne, oder auch ökonomischer Armut, geprägt sind, läuft die Gefahr auf, dass Kinder sich der neuen Medien uneingeschränkt bedienen dürfen, um „ruhig gestellt“ oder einfach „beschäftigt“ zu werden. Dies oftmals aus dem Grund, dass Eltern selbst mangelnde digitale und soziale Kompetenz aufweisen, woran Einfühlungsvermögen, Aufopferung, Sorge und Verständnisbemühungen gegenüber Kindern und ihren Problemen als vernachlässigte Güter sichtbar werden. Dem Kind offenbart sich mit dem Internet und digitalen Medien als Beziehungsersatz, daraufhin eine Welt, deren Informationen es unvorbereitet und unreflektiert antrifft.

Die Geheimnisse der Welt, die Gewalt in der Kultur wie im Realen, die Frage nach dem Leben und dem Tod, nach der Liebe und der Sexualität, nach der Identität und dem Sinn des Daseins, all das prasselt unvermittelt auf die unschuldige Seele ein und führt zum Tod dessen, was wir als Kindheit verstehen.
[…]
„Sullen and bored the kids stay, and this way they wish away each day.“ (Auszug aus Sentimental)
[…]
Was folgt sind mitunter verschiedenste psychische Störungen und defizitäre Ausprägungen einer seelischen Vergewaltigung, so dass je nach Extreme die medikamentöse Behandlung als Schlusslicht aufwartet. Wie kann eine Welt als sinnvoll erlebt werden, wenn sie nicht an eine Zukunft glaubt ? Wenn es keine Identifikation, kein Ich gibt ? Im Titelstück heißt es da :

„X-box is a god to me
A finger on the switch
My mother is a bitch
My father gave up ever trying to talk to me“
[…]
I’m through with pornography
The acting is lame
The action is tame
Explicitly dull
Arousal annulled
[…]
In school I don’t concentrate
And sex is kinda fun
But just another one
Of all the empty ways
Of using up a day
[…]
How can be sure I’m here ?
The pills that I’ve been taking confuse me
I need to know that someone sees that
There’s nothing left I simply am not here

Bipolar disorder
Can’t deal with the boredom   

Die Botschaft wird - wie es immer seltener noch der Fall ist - ebenso durch das Cover und die Gestaltung des Booklets transportiert. Aus nächster Distanz schauen wir in die Augen eines Kindes, welches von warmen, blauem Licht angestrahlt wird. Dabei handelt es sich natürlich um die Reflektion eines Computer-Bildschirms, dessen Kontur bei genauerer Betrachtung am unteren Rand zu erkennen ist. Und die Dunkelheit im Hintergrund verweist uns unmerklich auf die Gegenwärtigkeit von Isolation und Abschottung. Am Ende scheint der einzige Ausweg aus dem Gefängnis einer sinnleeren, unkontrollierbaren und zukunftslosen Welt der Suizid.
[…]
Let’s sleep together right now
Relieve the pressure somehow
Switch off the future right now

Let’s leave forever
(Auszug aus Sleep together)
    
Wilson und seine Mitstreiter tun ihr bestes dabei, über das gesamte Album den Leidensweg eines Seelenlebens musikalisch nachzuzeichnen - ohne dabei jedoch in Klischees abzudriften. „Fear of blank planet“ verläuft dabei unter einer kontinuierlichen Entwicklung, beginnend mit dem Zorn und allweltlichen Unzufriedenheit, über nihilistische Gefühle des Betäubt-Seins, hin zu der unausweichlichen Depression. Nur ab und zu fallen etwas hoffnungsvoll anmutende Töne und Sehnsüchte durch das engmaschige Netz aus allanwesender Melancholie. So etwa in „My ashes“ und „Sentimental“, wo helle Klavierakkorde einen schimmernden Gegensatz zu der sonst trüben Niedergeschlagenheit aufbauen.

Diese kunstvolle und überdachte Konzeption ist schon für sich genommen eine beachtliche Rarität, gewinnt aber vor allem durch die großartigen und abwechslungsreichen Arrangements in jedem Stück weiter an nennenswerter Qualität. Ein Grund warum das Album unbedingt unter dem Terminus „Gesamtkunstwerk“ zu verstehen ist. Denn Füllmaterial sucht man auf „Fear …“ ebenso vergeblich wie übergroße Fußstapfen, die auf den Pfaden von Genesis, Pink Floyd oder Yes wandern. Dafür stehen Porcupine Tree hier dem Metal-Genre zu nahe. Insbesondere Gavin Harrison, der später bei King Crimson und The Pineapple Thief hinterm Schlagzeug anbandelte, holt hier das Maximum aus seinem Kit heraus, ohne gleichzeitig Geschwindigkeitsrekorde aufstellen zu wollen. Das siebzehn Minuten lange Epos (hier ist die Auszeichnung gerechtfertigt) „Anesthetize“ ist dabei nicht nur Musterbeispiel für die Komplexität auf dem Album, sondern verdeutlicht eindrucksvoll die Vielseitigkeit eines Ausnahmedrummers, wie sie vielleicht nur ein Steven Wilson zur vollen Geltung bringen konnte. Letzterer musste seine Bedeutung für Progressive Musik mit gesellschaftskritischem Anspruch nicht erst seit „The Raven that refused to sing“  verifizieren. Mit Porcupine Tree und „Fear of a blank planet“ war diese Umstand längst bewiesen.
          
Das komplette Album könnt ihr hier hören :


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