Noch bevor Corona und Klimawandel zu gesellschaftlichen Inbegriffen
der neuen politischen Jugend werden sollten, gab und gibt es eine verdeckte
Problematik, die dieselben Jugendlichen betrifft, ohne dass sie möglicherweise ein
Gespür dafür entwickeln konnten. Die Rede ist hier vom Verschwinden der
Kindheit. Ganz im Sinne des Soziologen Neil Postman, der 1982 im gleichnamigen
Buch, darauf hinweisen wollte, dass Kindheit primär als ein soziales Konstrukt zu
verstehen sei, welches sich seit der Erfindung des Buchdrucks durch eine omnipräsente
und tief verwurzelte Literalität konstituierte.
Die Fähigkeit des Lesens trennt die Inhalte und Geheimnisse
der Erwachsenenwelt von den Augen und Gedanken der Kinder. Erst im langsamen
Reifeprozess, durch den mühsamen und reifenden Erwerb der Lesefähigkeit und der
Abstraktion, überwindet ein Kind die Schwelle zum Erwachsensein.
Wie kann aber
im 21. Jahrhundert ein Kind noch Kind sein, wenn durch Bildmedien wie Fernsehen
und Internet die Schwelle plötzlich verschwindet und Informationen ungefiltert die
Augen jedes Menschen gleichermaßen erreichen ? Wenn zwischen Kindern und
Erwachsenen kein Unterschied besteht, da keine Fähigkeit zur
Informationsaneignung mehr von Nöten ist ? Wenn ihrer beider Wahrnehmungswelten
miteinander verschmelzen; sie ein und dieselben sind ? Dann verschwindet das,
was wir im sozialen, nicht biologischen Sinne, als Kindheit bezeichnen.
Ob Steven Wilson, der gemeinhin als derzeitiger Frontkämpfer
der Progressive-Rock Bewegung angesehen werden kann, zur damaligen Zeit Postman
gelesen hat, lässt sich nur mutmaßen. Das Album „Fear of a blank planet“, welches
der heutige Solokünstler mit seiner einstigen Band Porcupine Tree im Jahr 2007
veröffentlichte, scheint der Thematik jedoch arg verbunden. Die Angst vor einer
menschenleeren Welt, bezeichnet nicht etwa – wie gegenwärtig annehmbar – die Extinktion
durch einen Virus oder einen globalen Krieg, sondern verhandelt die Epidemie des
Kindheitssterbens durch den Technikwandel und, unter anderem damit
korrespondierenden, sozialen Missverhältnissen.
Befürworter der uneingeschränkten Digitalisierung und
Akteure der Tech-Unternehmen, die von der Freiheit und den unbegrenzten Möglichkeiten
der modernen Medien predigen, vergessen in ihrer Argumentation oft, dass die
neuen Nutzungsmöglichkeiten und Kommunikationswege, die Art und Weise wie
Menschen denken und die Welt wahrnehmen erheblich verändern. Die Prämisse, alle
- also die Gesellschaft als Ganzes - würden in gleichem Maße von den Prozessen der
Digitalisierung profitieren, ist a priori falsch. Hinzu kommt nämlich, dass mediale
Kompetenz keineswegs angeboren ist und der Umgang und die Bewertung mit den
darin präsentierten Inhalten eine Herausforderung darstellt, die Beherrschung,
Rationalität und Literalität voraussetzt. Dinge, die ein Kind erst lernen
müsste, bevor es sich diesen Medien und Inhalten wirklich kritisch und aufgeklärt
gegenüber positionieren kann.
Wo aber die Milieus ohnehin soziale Defizite aufweisen und
von Bildungsferne, oder auch ökonomischer Armut, geprägt sind, läuft die Gefahr
auf, dass Kinder sich der neuen Medien uneingeschränkt bedienen dürfen, um „ruhig
gestellt“ oder einfach „beschäftigt“ zu werden. Dies oftmals aus dem Grund,
dass Eltern selbst mangelnde digitale und soziale Kompetenz aufweisen, woran Einfühlungsvermögen,
Aufopferung, Sorge und Verständnisbemühungen gegenüber Kindern und ihren
Problemen als vernachlässigte Güter sichtbar werden. Dem Kind offenbart sich mit
dem Internet und digitalen Medien als Beziehungsersatz, daraufhin eine Welt,
deren Informationen es unvorbereitet und unreflektiert antrifft.
Die Geheimnisse der Welt, die Gewalt in der Kultur wie im
Realen, die Frage nach dem Leben und dem Tod, nach der Liebe und der
Sexualität, nach der Identität und dem Sinn des Daseins, all das prasselt unvermittelt
auf die unschuldige Seele ein und führt zum Tod dessen, was wir als Kindheit
verstehen.
[…]
„Sullen and bored the
kids stay, and this way they wish away each day.“ (Auszug aus Sentimental)
[…]
Was folgt sind mitunter verschiedenste psychische Störungen
und defizitäre Ausprägungen einer seelischen Vergewaltigung, so dass je nach
Extreme die medikamentöse Behandlung als Schlusslicht aufwartet. Wie kann eine
Welt als sinnvoll erlebt werden, wenn sie nicht an eine Zukunft glaubt ? Wenn
es keine Identifikation, kein Ich gibt ? Im Titelstück heißt es da :
„X-box is a god to me
A finger on the switch
My mother is a bitch
My father gave up ever
trying to talk to me“
[…]
I’m through with
pornography
The acting is lame
The action is tame
Explicitly dull
Arousal annulled
[…]
In school I don’t concentrate
And sex is kinda fun
But just another one
Of all the empty ways
Of using up a day
[…]
How can be sure I’m here
?
The pills that I’ve been
taking confuse me
I need to know that
someone sees that
There’s nothing left I
simply am not here
Bipolar disorder
Can’t deal with the
boredom
Die Botschaft wird - wie es immer seltener noch der Fall ist
- ebenso durch das Cover und die Gestaltung des Booklets transportiert. Aus
nächster Distanz schauen wir in die Augen eines Kindes, welches von warmen, blauem
Licht angestrahlt wird. Dabei handelt es sich natürlich um die Reflektion eines
Computer-Bildschirms, dessen Kontur bei genauerer Betrachtung am unteren Rand zu
erkennen ist. Und die Dunkelheit im Hintergrund verweist uns unmerklich auf die
Gegenwärtigkeit von Isolation und Abschottung. Am Ende scheint der einzige
Ausweg aus dem Gefängnis einer sinnleeren, unkontrollierbaren und zukunftslosen
Welt der Suizid.
[…]
Let’s sleep together
right now
Relieve the pressure
somehow
Switch off the future
right now
Let’s leave forever
(Auszug aus Sleep together)
Wilson und seine Mitstreiter tun ihr bestes dabei, über das
gesamte Album den Leidensweg eines Seelenlebens musikalisch nachzuzeichnen -
ohne dabei jedoch in Klischees abzudriften. „Fear of blank planet“ verläuft
dabei unter einer kontinuierlichen Entwicklung, beginnend mit dem Zorn und allweltlichen
Unzufriedenheit, über nihilistische Gefühle des Betäubt-Seins, hin zu der
unausweichlichen Depression. Nur ab und zu fallen etwas hoffnungsvoll anmutende
Töne und Sehnsüchte durch das engmaschige Netz aus allanwesender Melancholie.
So etwa in „My ashes“ und „Sentimental“, wo helle Klavierakkorde einen schimmernden
Gegensatz zu der sonst trüben Niedergeschlagenheit aufbauen.
Diese kunstvolle und überdachte Konzeption ist schon für
sich genommen eine beachtliche Rarität, gewinnt aber vor allem durch die
großartigen und abwechslungsreichen Arrangements in jedem Stück weiter an nennenswerter
Qualität. Ein Grund warum das Album unbedingt unter dem Terminus „Gesamtkunstwerk“
zu verstehen ist. Denn Füllmaterial sucht man auf „Fear …“ ebenso vergeblich
wie übergroße Fußstapfen, die auf den Pfaden von Genesis, Pink Floyd oder Yes
wandern. Dafür stehen Porcupine Tree hier dem Metal-Genre zu nahe. Insbesondere
Gavin Harrison, der später bei King Crimson und The Pineapple Thief hinterm
Schlagzeug anbandelte, holt hier das Maximum aus seinem Kit heraus, ohne
gleichzeitig Geschwindigkeitsrekorde aufstellen zu wollen. Das siebzehn Minuten
lange Epos (hier ist die Auszeichnung gerechtfertigt) „Anesthetize“ ist dabei
nicht nur Musterbeispiel für die Komplexität auf dem Album, sondern verdeutlicht
eindrucksvoll die Vielseitigkeit eines Ausnahmedrummers, wie sie vielleicht nur
ein Steven Wilson zur vollen Geltung bringen konnte. Letzterer musste seine Bedeutung
für Progressive Musik mit gesellschaftskritischem Anspruch nicht erst seit „The
Raven that refused to sing“ verifizieren.
Mit Porcupine Tree und „Fear of a blank planet“ war diese Umstand längst bewiesen.
Das komplette Album könnt ihr hier hören :
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen