Freitag, 4. Oktober 2019

Toll, toller, Tool ! Albumreview zu „Fear Inoculum“


Es ist mal wieder an der Zeit für mich ein besonderes Stück Musik zu empfehlen und schmackhaft zu machen. Und diesmal ist die Aufgabe denkbar schwer, denn das neueste Tool-Album ist alles andere als ein leichtes, bekömmliches Häppchen für Zwischendurch. Eigentlich eine Tatsache, die schon im Voraus ein Pluspunkt auf meiner Wertungsskala bedeutet. Ich konstatiere, es gibt sie tatsächlich noch - leider immer seltener - die Alben, die sich in Überlänge ergötzen und ihrem Hörer zumuten nicht auf Anhieb zu gefallen. Obwohl die Fanbase von Tool und der Hype um die Platte schon Kult für sich sind, gibt es wahrscheinlich genügend Leute, denen auch der Fakt egal sein sollte, dass es für die Band die erste Veröffentlichung seid dreizehn Jahren ist und in vielen relevanten Musikredaktionen herbei erwartet wurde wie die Ankündigung des neuesten I-Phone Ablegers unter Apple-Jüngern; ähnlich fanatisch. Ebenso wird es vielen Pop-Hörern egal sein, dass die Prog-Rocker andere Koryphäen in den Charts auf Anhieb verdrängt haben (zu Recht).      

Zugegeben, an mir ist diese Band seit immer und bis dato spurlos vorbeigegangen. Als leidenschaftlicher Prog-Rock-Bekenner hab ich natürlich über die so gesagten Klassikerwerke drüber gehört, widmete den Songs aber nie wirklich gebürtige Aufmerksamkeit. Klar ist das fabelhaft gespielt und für die damalige Zeit wahrscheinlich auch Genre-prägend, aber irgendwas fehlte, dass es eine Initialzündung auslösen würde. Vielleicht ändert sich das nun in Zukunft. Denn ohne groß herumzuschweifen, entdecke ich die Band durch ihr aktuelles Album „Fear Inoculum“ wieder neu. Ein Album wie es in meiner Wahrnehmung vielleicht alle paar Jahre auftaucht und aus der Masse hervorsticht. „Fear Inoculum“ ist wieder hörenswert, um nicht zu sagen geradezu erschütternd gut.

Als kleiner Wehrmutstropfen vorweg, zwischen der wesentlichen Musik und drumherum sind einige Kopfschüttler durchaus angebracht. Das beginnt mit der Frage, weshalb die Platte nicht als tiefenschwarze Vinyl-Version auf den Markt kommt, sondern entweder als völlig überteuerte, mit allerlei redundantem pseudo-fanservice-special Material angereicherte, Deluxe-CD-Box, oder eben in Form eines seelenlosen Mp3-Downloads auf dem Streamingportal deines Vertrauens. Da schiebt man den Release um die womöglich gehypteste Rockplatte der vergangenen Jahre bis zur ermüdenden Lustlosigkeit hinaus und bietet, den vor lauter Warterei beinahe ausgebrannten Fans, die unverschämteste Abzocke seit langem. Streng limitierte Stückzahlen mit 80 € Einstiegspreis ! Muss man nicht verstehen, ist einfach künstliche Verknappung, Profitgier, Arroganz, was auch immer.

Egal, viel interessanter ist sowieso, was auf Gehörebene passiert, sobald die vier Herren ihr Arsenal nach Lust und Können verschießen. Und hier sehe ich die einzige Schwäche bei den herzlich uninspirierten Zwischenspielen, die wirklich niemand bräuchte und daherkommen, als wären es Outtakes, die die Band zwischendurch beim Jammen aufgenommen und einmal am Computer zusammengeklatscht und dazwischen gepresst hat, weil offensichtlich auf der super-dollen vierer CD-Deluxe-Box noch Platz für Zusatzmaterial war.

Abseits dieser Musikschnipsel fließt die eigentliche Magie von „Fear Inoculum“. Sechs atemberaubende, zwischen zehn und fünfzehn Minuten anhaltende Longtracks, von denen jeder einzelne den Hörer in vollem Maße vereinnahmt. Zu meiner Schande muss ich gestehen beim ersten Durchlauf die Tracks lediglich im Hintergrund und aus der Distanz wahrgenommen zu haben. Und so, das kann ich nur betonen, gewinnt dieser Film definitiv keinen Preis. Hier muss man wirklich genau hinhören, erkunden, im Detail forschen, Aufpassen und die Lust und Zeit mitbringen sich mindestens eine Viertelstunde seines Lebens hinzugeben. Wer nichts für Zahlenspielereien und Rhythmuswechsel am laufenden Band übrig hat oder die Gitarre nur als Klampfe vom Lagerfeuer kennt, sprich, wer glaubt gute Musik bestehe nur aus Dreiminütern ala Taylor, Miley, Ariana, Ellie etc. , tut sich mit dieser Platte vermutlich schwer und wird vielleicht nie in den vollen Genuss kommen. Schade eigentlich, denn wer sich bereitwillig darauf einlässt, wird hier reich belohnt.  

Erst bei meiner zweiten Hör-Session mit offenen Ohren ist der Funke daher vollends übergesprungen. Erst wenn man genau hinhört erkennt man, was diese Scheibe so großartig macht. Seien es das nahtlose, stets kongeniale und abwechslungsreiche Schlagzeugspiel von Danny Carey, welches die Songs kraftvoll anleitet und über alle Distanzen zusammenhält, wie Kitt, oder die hysterisch pulsierende und rastlose Gitarre in „7empest“, die aus dem Nichts und urplötzlich den ganzen Raum einzunehmen vermag, die flächenbauenden Synthies und auftürmenden Klangschichten, die in „Pneuma“ ein gewaltiges Finale heraufbeschwören, dem möglicherweise besten Stück der Platte, sei es das oft unterschätze Spiel mit der laut-leise Dynamik in „Descending“, oder sei es der stimmungsvolle, düstere Nebel zu Beginn des Titelstücks, der einen Vorgeschmack liefert, welche Mathematik sich hinter den folgenden 87 Minuten-dicken Schwaden verbirgt und den Hörer schon mal auf das Unheimlichste vorbereitet; vor dieser Musik sollte man ehrfürchtig von seinem Sessel aufstehen und applaudieren.  

„Fear Inoculum“ ist zweierlei. Zum einen ein technisch wahnsinnig anspruchsvolles und atmosphärisch unnachahmliches Stück progressiver Musik. Und zum anderen eine einmalige Sinneserfahrung wie es die wenigsten Künstler noch gerade mit Mühe hinbekommen. „Fear Inoculum“ klingt herrlich frisch und gleichsam nach der Weisheit alter Meister, die sich nochmal zu Worte melden, man kann Musik auch noch anders erzählen. Herrlich !

Anspieltipps : Pneuma, Invincible

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen