Ich erwische gerade noch die letzte U-Bahn. Zwischen Fahrgästen
und Sitztrennung ergattere ich einen Stehplatz und ziehe ein Buch hervor. Ich
hege keine großen Erwartungen, aber Neugierde ist durchaus vorhanden. Ich
schaue nochmal auf das Ticket und vergewissere mich über den Einlasstermin. Nach
einer halben Stunde Fahrt schiele ich aus dem Fenster und sehe die ersten
Schneeflocken. Die Fahrtanzeige an der Decke ist von unbekannten Gesichtern verdeckt,
so eng drängen sich die Leute in der Straßenbahn. Eine Ansage ertönt und vermag
es nicht sich durch das Getümmel zu meinem Ohr durchzudringen, sie geht unter. Eine
ältere Dame kennt die Strecke und hilft mir die richtige Station ausfindig zu machen.
Endstation Schleyerhalle. Üblicherweise Schauplatz diverser Musikvertreter und Gelegenheit
für Schwabenbürger Kultur auf großer Bühne zu erleben, was auch für diesen Tag
wiedermal zutrifft. Schlager-Koryphäe Andrea Berg beschallt in der einen Hälfte
ein über lange Jahre gereiftes Publikum, das sich nochmal wie 27 fühlen und vielleicht
an alte Zeiten erinnern möchte. Unkonventionell, aber nicht weniger
nostalgisch, geht es dagegen in der anderen Hallenseite zu. Zwanzig- ,
vielleicht Dreißigtausend Zuschauer – mich eingeschlossen - werden an diesem
Freitagabend an einer live vorgetragenen Hörspielfolge von „die drei Fragezeichen
und der dunkle Taipan“ teilnehmen. Justus, Jonas und Bob. Drei Jungdetektive,
die ursprünglich als amerikanische Buchvorlage entstanden und hierzulande als spannend
vertontes Hörspiel für Jugendliche bekannt wurden.
Ein defektes Kartenlesegerät und die strengen Einlasskontrollen
(keine Rucksäcke und Taschen, die A4 Format überragen sind erlaubt) trüben
zunächst die Stimmung und sorgen für reichlich Frust statt Lust. Aufbewahrung für
Wertgutsachen gibt es heute nicht. Zumindest nicht offiziell. Ein kleinen Aufbewahrungsservice
gibt es an der Straße. Der zusätzliche Andrang der mitgereisten Schlagerfans entspannt
den Ordnungsprozess umso weniger. Dementsprechend dauert es keine drei Minuten
und der gesamte Eingang überquillt, das Personal fühlt sich überfordert und die
Besucher genervt; also normales Klima im Schwabenländle. Schließlich hilft nur
noch Geduld, Hände aneinander reiben und Abwarten bis sich der Pulk gemächlich in
Bewegung setzt. Die ersten zwei Minuten des Abenteuers verpasse ich folglich.
Egal, Platz suchen, hinsetzen und die Show genießen.
Die Bühne erstrahlt mit diversen Lichtern ausgestattet, am
vorderen Rand stehen drei Mikrofonständer aufgereiht nebeneinander als würde
dort eine Boygroup auftreten, Mischpulte und Keyboards dürfen auch nicht fehlen,
und ein Geräuschemacher sitzt wie selbstverständlich mit seinem Equipment aus Mikrofonen,
Fahrradreifen, Schuhen, verschieden gearteten Oberflächen und tausend weiteren
Gegenständen da und starrt gleiche einem Dirigenten auf das Drehbuch vor ihm. Ein
großer roter Vorhang ummantelt die Spielfläche und im Hintergrund türmen drei gut
sichtbare „?“ -Lampen, monumental wie Monolithen.
Die folgenden zweieinhalb Stunden, inklusive Umsatzpause, hinterlassen
den Eindruck bei mir, ich sei soeben in den Kreis einer anderen Subkultur
eingetreten. Denn obwohl mir die Hörspielserie seit längerem geläufig war,
hatte ich mich erst im vergangen Jahr dazu hinreißen lassen, einem der
Abenteuer wirklich mal genauer auf dem Zahn zu fühlen. Die erste Begegnung, als
ich die drei Detektive bewusst wahrgenommen hatte, war kurioserweise beim Auskundschaften
in den Verkaufscharts und in der Mediaabteilung. Man schaut sich zwanglos um,
was sind die Trends ? Was bringt die höchsten Absatzzahlen ? Was ist beliebt und
angesagt? Interessanterweise, so musste ich feststellen, eine Hörspielserie für
Kinder- und Jugendliche, die mit jede ihrer neuesten Folgen in den Toplisten
landet.
Ab diesem Zeitpunkt war meine Neugierde geweckt und ich würde
mit der Zeit feststellen, dass die Reihe nicht nur ein großes Phänomen in der
Jugendkultur bildet und es etliche Franchiseprodukte gibt, sondern die Marke
insbesondere generationenübergreifend ihren Erfolg verbaut. Eine Erkenntnis,
die das Trio auch wissentlich und bei geeigneter Gelegenheit in die Show einzupflegen
gedenkt. Da gibt es beispielsweise eine Szene, in der die Charaktere ihr Alter
vorweisen sollen. Leichte Uneinigkeit herrscht zwischen den drei Männern. Bob
schwört auf fünfzehn Jahre, worauf Justus lakonisch und treffsicher sagt : „Ach
was, wir sind mindestens sechzehn“. Eine kurze Stille breitet sich im Publikum aus und die Halle schweigt gebannt.
Der erste Detektiv fügt seufzend hinzu : „Aber das schon seit vierzig Jahren“. Schallendes
Gelächter braust auf.
Es sind Momente, die mehr gekonnt als gewollt wirken und an
diesem Abend auch immer wieder eine Verneigung vor den Fans und ihrer
langjährigen Treue signalisieren. Ein Zurückerinnern und Reflektieren, das
ebenso in der Erzählung stattfindet. Diese springt in gewohnter Manier von mehreren,
teils bekannten Orten hin und her, führt wenige, prägnante Figuren ein und ist
durchtränkt von Anspielungen und Verweisen auf Popkultur und frühere Episoden.
Für Leute, die den Kosmos erst kennenlernen sicherlich kein Mehrgewinn, aber
auch nicht abschreckend, halten sich die Reminiszenzen doch im erträglichen Umfang
und verkommen niemals zum Selbstzweck. Spannung und Humor bleiben ebenfalls in
der Waagschale, schießen keineswegs über das Ziel hinaus und adressieren in der
Regel nie allein die jüngere Zuhörerschaft.
Neben den bekannten Sprechern treten regelmäßig die selben
Nebenakteure auf und schlüpfen immer wieder in andere Rollen, verändern ihre
Stimmlage und Akzent und spielen passend dazu ein wenig mit Körper und Mimik.
Immer begleitet von akzentuierten, auf der Bühne erzeugten Geräuschen und
Soundeffekten, die die Szenerie ergänzen und lebendig werden lassen. Man erlebt
hier live - unüblicherweise mit Augen und Ohren - wie das sonst verdeckte
Handwerk aus Schauspiel und Toningenieur in Symbiose ineinandergreifen und
transparent werden. Das gesamte Stück gleicht dabei einem
Synchronisationstheater ohne überkandideltes Bühnenbild und Kostümbasar. Dafür
steht das Akustische im Vordergrund und man könnte während der Show beruhigt
die Augen schließen; die Erfahrung wäre ebenso intensiv.
Einzig der Kriminalfall, das im Mittelpunkt stehende
Mysterium, scheint der schwächste Punkt in dem gesamten Event, ist man von den
drei ??? doch deutlich besseres gewohnt. So wirkt die Geschichte punktuell
stark konstruiert und hier und prophezeie ich, dass sich detailbesessene
Logiklückenschließer die Haare herausziehen werden. Notorisch sollte man eben
betonen, dass es bei aller Liebe oftmals um ein simpel gestricktes
Jugendhörspiel handelt. Und dennoch spüre ich an diesem Abend keineswegs den
Gedanken von Abzocke oder Veräppelung.
Wenn eine restlos ausverkaufte Stadionhalle in vollkommener
Ruhe, einem zwei Stunden lagen Hörspiel lauscht, dabei von acht bis achtzig
Jahren nahezu alle Altersgruppen vertreten sind, dann versprüht das eine einvernehmliche
Atmosphäre, die dem echten Weihnachtsgeist besonders nahe kommt. Fast wie eine
Kirche unter der alle ein Dach finden. Ein Vergleich, der zumindest formell gar
nicht so abwegig klingt. Die meiste Zeit wird schließlich geschwiegen und zugehört,
und am Ende gibt es eine Standing-Ovation.
Ich kann das Phänomen „die drei ???“ nach zweieinhalb
Stunden unterhaltsamen Akustiktheaters mehr nachvollziehen denn je. Ohne eine
nostalgische Brille aufsetzen zu müssen erschließt sich mir langsam die
Begeisterung und der populäre Erfolg der Serie. Erfolg, der sich insbesondere in
der großartigen Bühnen- und Synchronisationsperformance der Akteure rechtfertigt.
Sicherlich gibt es ureigene Grundbedürfnisse, nach denen wir
uns sehnen. Das Hören von Geschichten ist nicht zuletzt eine dieser Sehnsüchte,
die einst am Lagerfeuer begann und mittlerweile ständig neue Formen angenommen
hat. Allerdings braucht es, so viel sei mal spekuliert, im Zeitalter von
Streaming vielleicht mehr denn je das Unmittelbare, das Nahbare und unbestreitbar,
eine gewisse Qualität von Unterhaltung– trotz aller Nostalgie. So wie eben bei
den drei ???.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, diesen Personen ihre Berufserfahrung
und ihr einmaliges Talent an jeder Ecke anzumerken. Gleichsam treten sie mit
ihrer öffentlichen Darbietung für eine Kunst ein, die dem Video-, Buch- und
Musikmarkt zahlenmäßig weit unterliegt, die es daneben aber in gleichem Maße zu
würdigen gilt. Die Kunst, die die ??? und ihre Mitstreiter in beängstigender
Leichtigkeit zelebrieren und die zurecht von den Zuschauenden und Zuhörenden an
diesem Abend gefeiert wird, sie bleibt stets minimalistisch, und gerade deshalb
so groß.
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